Kommentar: Wie ich vom Sandbox- zum Telltale-Jünger wurde
Linear vs Sandbox
Vor zehn Jahren hatte ich eine klare Vorstellung von einem guten Spiel: Es sollte eine offene, große Welt haben und möglichst viele Betätigungsmöglichkeiten bieten. Eine gute Story stand auch auf der Liste der Anforderungen, war aber nicht zwingend – Hauptsache es gab viel zu tun.
Dieser Sandbox-Charakter war lange Zeit bei guten, wichtigen Produktionen üblich, wurde aber schon damals Stück für Stück aufgeweicht. Zuerst kamen die engen Areale: Wer sparen wollte, setzte kurzerhand auf kleinere Gebiete mit (am besten unsichtbaren) Grenzen. Dann kam die Fokussierung auf die Story: Die Güte der Spielwelt trat in den Hintergrund, dafür wurden im Idealfall interessante Geschichten erzählt. Waren vorher Zwischensequenzen eine Seltenheit, wurden sie plötzlich häufiger und wichtiger.
Die „Telltalisierung“ der Spielbranche
Dieser Trend hat sich in den letzten Jahren durch die „Telltalisierung“ der Spielebranche weiter verstärkt. Dabei sind die Titel der besagten Spieleschmiede Telltale wie etwa Game of Thrones und Borderlands die Speerspitze einer neuen Entwicklung: Spiele werden zu interaktiven Filmen, die sich primär auf Story und Charaktere konzentrieren. Die Spielwelt und auch das Gameplay treten dabei zunehmend in den Hintergrund. Stattdessen starren wir auf Dialoge, wägen Entscheidungen ab und fiebern mit unseren Charakteren mit.
Diese Entwicklung habe ich lange Zeit verdammt. Dabei ist diese Perspektive, das muss ich mir mittlerweile eingestehen, falsch: Die „Telltalisierung“ ist nicht das Problem, sie ist die Lösung. Sie führt nicht ins Desaster, sondern ist eine erste Version dessen, wie wir Spiele mittel- und langfristig spielen werden.
Natürlich ist diese erste Version des Spielens der Zukunft alles anderes als perfekt. Völlig zu Recht wird Telltale vorgeworfen, dass die Titel dem Spieler nur vorgaukeln, dass die Entscheidungen einen Einfluss auf den Fortgang der Handlungen haben. Und natürlich stecken die Inhalte noch in einem viel zu starren Korsett.
Man muss sich aber nur vorstellen, welche Anziehungskraft verbesserte Versionen dieses Paradigmas haben werden: Wenn die Entscheidungsbäume komplexer werden, wenn wir Erzählungen mit mehreren Spielern erleben können – und wenn wir durch unsere Entscheidungen und unser Vorgehen tatsächlich essentiell und gemeinsam bestimmen, wie die Story weitergeht. Und dann, als Sahnehäubchen, was es bedeuten wird, wenn wir all das mit VR-Hardware noch authentischer erleben werden. HBO-Serien zum selber gestalten und erleben: Was für eine fantastische Vorstellung!
Die Sandbox wird bleiben
Natürlich werden in dieser Zukunft auch Sandbox-Spiele ihre Daseinsberechtigung haben. Man darf sich aber nichts vormachen: Diese Art des Gamings ist nicht nur „oldschool“, sie hat meistens auch mehr schlecht als recht funktioniert. Von einigen großen, schillernden Ausnahmen wie zuletzt etwa GTA V abgesehen, waren viele Titel, die dem Open-World-Sandbox-Ideal gefolgt sind, nicht überzeugend. Das gilt zumindest dann, wenn man Spielspaß nicht auf das bloße Durchsuchen von Höhlen und die Jagd nach Achievements und Items reduziert. Abseits davon wirken Sandbox-Titel oft lose und haben mit Problemen wie einer unbelebten Spielwelt zu kämpfen. Ja, man kann sich frei bewegen, man kann machen was man will – aber warum eigentlich? Wozu? Nur die allerwenigsten Sandbox-Spiele haben auf diese entscheidende Frage eine echte Antwort.
Seitdem ich zu dieser Ansicht gelangt bin, ärgere ich mich stärker über halbgare Open-World-Spiele – und habe mehr Verständnis, wenn ich in den einschlägigen Foren mal wieder die Beweisführung dafür mitlesen kann, dass ein Telltale-Titel mich bei der Reichweite der Entscheidungen verarscht hat.
Auch wenn diese Verballhornung der Spieler ärgerlich ist: Wir sollten uns vom Ideal der Sandbox verabschieden, und die Zukunft des interaktiven Spiel-Films akzeptieren – auch wenn es noch ein langer Weg ist.
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