Chatkontrolle: Freiwillige Übergangs­regelung wie erwartet verlängert

Michael Schäfer
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Chatkontrolle: Freiwillige Übergangs­regelung wie erwartet verlängert
Bild: USA-Reiseblogger | gemeinfrei

Lange ist es erwartet worden, jetzt ist es offiziell: Das EU-Parlament und der EU-Rat haben sich gestern für eine Fortsetzung der freiwilligen Chatkontrolle ausgesprochen. Ob sich vor allem die US-Unternehmen auch in Zukunft an die Selbstverpflichtung halten werden, bleibt allerdings offen.

Nach wie vor sieht es nicht gut für die umgangssprachlich als „Chatkontrolle“ bezeichnete Verordnung zum Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch im Internet aus. Im EU-Parlament gibt es nach wie vor keine Mehrheit für das Vorgehen und auch im sich aus den Mitgliedstaaten zusammensetzenden EU-Rat bröckelt die Zustimmung immer mehr. Inzwischen dürfte auch die EU-Kommission erkannt haben, dass die neue Verordnung nicht noch vor der nächsten Europa-Wahl am 9. Juni 2024 verabschiedet werden kann. Danach könnten die Mehrheitsverhältnisse neu gemischt werden – auch zum Nachteil für EU-Innenkommissarin Ylva Johansson, einer der großen Unterstützer des Vorhabens. Für die meisten Kritiker ist die Chatkontrolle weder zielführend beim Schutz von Kindern, noch mit den Grundrechten vereinbar.

Die Zeit drängt

Da insbesondere das Europäische Parlament nach wie vor über einen Kompromiss debattiert, konnten die Trilog-Verhandlungen, bei denen sich die drei Organe auf die Ausgestaltung des künftigen Gesetzes einigen, noch nicht begonnen werden. Da die derzeitige Regelung zur freiwilligen Kontrolle zum 3. August 2024 ausläuft, bestand jedoch Handlungsbedarf. Nun haben sich EU-Parlament und EU-Rat auf eine Weiterführung der Regelung bis zum April 2026 ausgesprochen. Doch auch hier gab es Widerstand: Die Mehrheit im EU-Parlament, darunter auch Union und SPD, wollte die freiwilligen Maßnahmen ursprünglich lediglich um neun Monate verlängern. Ziel war es hier, möglichst schnell von einer anlasslosen zur gezielten Überwachung von Verdächtigen überzugehen und gleichzeitig durch sicherere Voreinstellungen von Diensten einen besseren Schutz von Kindern zu ermöglichen. Auch eine proaktive Suche nach frei zugänglichem Missbrauchsmaterial, weitere Löschpflichten und ein europäisches Kinderschutzzentrum waren Teil der Maßnahmen, erklärt der Bürgerrechtler, Jurist und Politiker Patrick Breyer von der Piratenpartei.

Nein, aber ...

In einem Blog-Beitrag spart der EU-Abgeordnete nicht mit Kritik: Für ihn habe sich das EU-Parlament zwar mehrheitlich gegen die anlasslose Überwachung ausgesprochen, „mit dem heutigen Deal zementiert es sie aber“, so Breyer. Für ihn bietet die aktuelle Regelung keinen wirklichen Schutz für Kinder vor Missbrauch, zudem bestehe die Gefahr, dass „immer weitere Verlängerungen des Status Quo folgen und ein besserer Schutz von Kindern immer unwahrscheinlicher“ werde. Ihm nach sei es der EU-Kommission und EU-Regierung zusammen mit einem „internationalen überwachungsbehördlich-industriellen Netzwerk“ gelungen, „der Parlamentsmehrheit Angst vor einer vermeintlichen ‚Schutzlücke‘ durch Wegfall der flächendeckenden freiwilligen Chatkontrolle 1.0 zu machen“.

Zu viele Unschuldige geraten ins Visier

Für den Politiker steht vor allem die fehlende Verhältnismäßigkeit ganz oben auf der Kritikliste: Bereits Ende letzten Jahres räumte EU-Kommissarin Johansson in einer Runde vor den EU-Innenministern ein, dass lediglich jedes vierte ausgesteuerte private Bild oder Video eine Relevanz für die Ermittlungsbehörden besitzt. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass drei von vier der jährlich 75.000 Strandfotos und Nacktbilder strafrechtlich völlig irrelevant sind und in die Hände von unbekannten Moderatoren im Ausland gelangen, bei denen sie nicht sicher sind und bei denen sie „nichts zu suchen haben“.

Zu einer noch geringeren Quote kam die irische Polizei im Jahr 2020, wie eine Untersuchung des Rechtsausschusses des irischen Parlaments im April des letzten Jahres ergab: Dort konnten lediglich 9,7 Prozent der untersuchten Inhalte von den Ermittlern genutzt werden. Bei rund zehn Milliarden Nachrichten, die täglich innerhalb der EU verschickt werden, wären selbst bei einer Meldungsrate von lediglich 0,001 Prozent jeden Tag 100.000 Nachrichten zu überprüfen. Der dafür erforderliche Personaleinsatz wäre enorm und kaum zu leisten.

Gefahr durch Normalisierung

Für die Spitzenkandidatin der Piratenpartei zur Europawahl, Anja Hirschel, werden mit der jetzt ihrer Meinung nach „hektisch“ verlängerten freiwilligen Kontrolle „gezielt weit über die kommende Europawahl hinaus Tatsachen geschaffen“. Sie sieht die Gefahr, dass damit eine flächendeckende Überwachung „normalisiert werden und dann als Grundlage für eine noch verschärftere Chatkontrolle 2.0 dienen“ kann.

Mitarbeit der Diensteanbieter nicht sicher

Fraglich ist auch, ob sich die Anbieter weiterhin der freiwilligen Verpflichtung unterziehen oder dies überhaupt können werden: So kündigte Meta bereits Anfang Dezember des letzten Jahres an, für seine Dienste Facebook, Instagram und WhatsApp in den nächsten Monaten die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung als Standard einzuführen und damit die bisherige Form der Chatkontrolle zu beenden.