Kommentar: HTC steht vor einem schwierigen Jahr
Masse statt Klasse
Wer schnell hoch aufsteigt, kann ebenso schnell wieder fallen. Diese auf den ersten Blick reichlich fahle Logik ist auf den zweiten Blick tatsächlich auf unterschiedlichste Lebenssituationen und Adressaten anwendbar. Kein Wunder also, dass es in mindestens ebenso vielen Lebenssituationen zum guten Ton gehört, den Abstieg eines aktuellen Überfliegers zu prognostizieren und mit bestimmten Gründen zu verbinden.
Vor diesem Hintergrund lässt sich erklären, warum wir uns unlängst an gleicher Stelle mit der Gefahr eines Abstiegs von Apple beschäftigt haben. Dieses Mal soll es mit HTC um einen Apple-Konkurrenten gehen, über den böse Zungen behaupten, dass er schon längst dort ist, wo Apple niemals hin möchte: Auf dem absteigenden Ast.
Der Grund für diese Behauptungen ist einfach: Nach Monaten und Jahren der rauschenden Dauer-Party schockte HTC im November zunächst mit einer Gewinnwarnung, um dann Quartalsergebnisse zu präsentieren, die für größere Ernüchterung und erste apokalyptische Prognosen bezüglich der Zukunft des ambitionierten Unternehmens sorgten.
Hierbei handelt es sich um eine Entwicklung, die ganz vortrefflich in das beschriebene Schema vom schnellen Aufstieg und der damit stets verbundenen Gefahr des ebenso schnellen Abstiegs passt: Als Noname-Auftragshersteller gestartet, mauserte sich HTC spätestens ab 2009 zu einer echten Branchengröße, die mit packenden Geräten wie dem Desire schnell von sich reden machte und häufig eng mit dem Aufstieg von Googles mobilem Betriebssystem Android assoziiert wurde.
Auch wenn es durchaus gewagt ist, von einem einzelnen Quartalsergebnis auf einen grundsätzlichen Abwärtstrend zu schließen: Die Vermutung liegt nahe, dass sich die darauffolgende Phase des bedingungslosen Erfolges für HTC nun dem Ende zu neigt und man sich auf ein zumindest ungemütliches, wenn nicht sogar sehr schwieriges Jahr 2012 einstellen muss.
Doch wie konnte es soweit kommen? Ist HTC einfach „fat and lazy“ geworden und das obwohl PR-Vertreter nie müde wurden, gegenüber der Presse stets das innovative, umtriebige Moment des Unternehmens und allen voran von CEO Peter Chou herauszustellen? Die Antwort auf diese Frage lautet: Indirekt ja!
Indirekt deshalb, weil es sehr spezifische Umstände sind, die dazu geführt haben, dass aus dem „Champion HTC“ nun der potentielle „Absteiger HTC“ geworden ist. Betrachtet man das Jahr 2011 aus HTC-Perspektive, so lässt sich zu dem Schluss kommen, dass eine giftige Mischung aus Innovationsarmut und einer exzessiven Anwendung des per se gefährlichen „Masse statt Klasse“-Prinzips zu einer Verwaschung des Produktportfolios geführt haben, die – mit einer gewissen Verzögerung – zum Jahresende schließlich auch auf die Verkaufszahlen durchgeschlagen ist.
Um diesen Punkt zu verdeutlichen, muss nur auf das aktuelle HTC-Smartphone-Portfolio verwiesen werden. Während andernorts eine Produktstrategie verfolgt wird, die auf mehr oder weniger sinnvollen preislichen und featuremäßigen Abgrenzungen – und im Falle von Apple: auf einem extrem kleinen Portfolio – basiert, hat bei HTC ein Wildwuchs stattgefunden, der kaum noch ein sinnvolles System und eine, insbesondere für den Kunden entscheidende, Übersichtlichkeit erkennen lässt.
Seinen Anfang nahm dieser Wildwuchs bereits Ende 2010. Hier stieg HTC nicht nur ambitioniert aber wenig differenziert mit drei Geräten in das WP-7-Geschäft ein, sondern präsentierte mit dem Desire HD und dem Desire Z auch zwei neue Android-Geräte, die in gewisser Weise das erste Desire beerbten, aufgrund ihrer Beschaffenheit – das HD als klassische Produktpflege, das Z als Gerät für Tastatur-Freunde – aber noch logisch einzuordnen waren.
Vielleicht getrieben von der dem Erfolg geschuldeten Euphorie folgten 2011 dann aber zahlreiche Geräte, deren Positionierung längst nicht mehr so klar ausfällt. Da ist zum Beispiel das Sensation, das durchaus als neues Flaggschiff verstanden werden kann, das sich im direkten Vergleich mit der potenten Konkurrenz (Stichwort: Samsung Galaxy S II) aber nicht so richtig durchsetzen konnte. Und da sind neben zwei reichlich überflüssigen Social-Network-Schmalspur-Smartphones (ChaCha und Salsa) die S-Neuauflagen von altbekannten Geräten, die nicht nur für ein größeres Volumen des Portfolios sorgen, sondern zugleich das mittlerweile vierte (!) Desire-Gerät mit sich brachten und damit zu einer massiven Verwaschung der ehemaligen Flaggschiff-Marke von HTC führten.
Nach einem kurzen Ausflug in 3D-Gefilde wurde es dann im Spätsommer bzw. frühen Herbst im HTC-Portfolio erst so richtig heimelig. Durch den Einstieg bei Beats Audio sahen sich die Verantwortlichen offensichtlich genötigt, zügig entsprechende Geräte auf den Markt zu bringen. Das erste Ergebnisse: Eine zusätzliche Schwächung der nunmehr eigentlich neuen Flaggschiff-Linie „Sensation“ und eine weitere Aufblähung des Angebots.
Das vormals als neues HTC-Vorzeige-Smartphone gehandelte Sensation wurde mehr oder weniger vom Sensation XE abgelöst, sodass sich all jene Kunden, die trotz mancher Bedenken dem Sensation gegenüber den Samsung-, LG- oder Apple-Pendants den Vorzug gegeben hatten, wundern durften, warum das vermeintliche HTC-Super-Phone bereits wenige Monate nach Veröffentlichung portfoliointern vom Thron gestürzt wurde und man somit trotz hoher Investionen nicht mehr das Alphatier im HTC-Rudel sein Eigen nennen konnte. Zudem wurde mit dem Sensation XL ein weiteres Sensation-Gerät veröffentlicht, bei dem es sich de facto um einen bloßen Beats-Android-Klon des neuen WP7-Flaggschiffs Titan handelt, was zusätzlich zur Frage nach der Aufteilung der Desire-Geräte nun die Frage aufwarf, für wen denn nun eigentlich welches Sensation-Gerät gedacht sein könnte.
Und auch im Einsteiger-Segment fand der Veröffentlichungseifer schließlich seinen Widerhall, indem mit dem Explorer ein Wildfire-S-Klon präsentiert wurde, der seinen Vorgänger im Geiste aber nicht so recht zu überflügeln vermochte.
Zusammengefasst kann 2011 vor diesem Hintergrund als das Jahr gelten, in dem HTC in nahezu jedem Preis- und Featuresegment neue Geräte veröffentlicht hat. Abseits von Überlegungen zu dem Warum stellt sich dabei vor allem die Frage, welche Auswirkungen ein solches Vorgehen auf die Akzeptanz und das Produkt-Verständnis bei der Kundschaft sowie die grundsätzliche Schärfe der Marke „HTC“ haben kann.
An dieser Stelle lautet die zentrale Behauptung: Durchweg negative! Auch wenn man sich sicher um die Güte und Sinnhaftigkeit jedes einzelnen Gerätes streiten kann (für sich betrachtet enttäuschte keines der Geräte), zeigt sich doch in der Gesamtschau, dass eine gehörige Verwässerung des Portfolios stattgefunden hat, sodass heute niemand mehr so recht sagen kann, welche Produktlinie bei HTC nun eigentlich für welche(n) Kompetenz, Preiskategorie und Stil steht – ein Zustand, der als einer der Hauptgründe für die nun drohenden Schwierigkeiten interpretiert werden kann.
Das Problem von HTC wurzelt dieser Lesart nach also nicht in der Hard- oder Software, sondern vor allem in einer planlos und gehetzt wirkenden Produktstrategie, die zugunsten von so positiven Merkmalen wie Übersichtlichkeit, Eingängigkeit und Eindeutigkeit auf eine insgesamt eher farblose Masse an Geräten setzt, deren Mitglieder kaum noch mit echten Alleinstellungsmerkmalen aufblitzen können und so immer weniger attraktiv wirken.
Ist der Abstieg mit Blick auf dieses Problem unausweichlich? Sicher nicht. HTC ist längst nicht weg vom Fenster, auch wenn sich die vormals durchweg positiven Vorzeichen langsam verändern. Allerdings wird es in diesem Jahr darauf ankommen, das Portfolio zu straffen und dadurch dem Markenkern wieder ein eindeutigeres, nachvollziehbareres Profil zu verleihen. Ob dies gelingt, wird sich in ersten Zügen bereits Ende Februar auf dem Mobile World Congress 2012 zeigen, bei dem die Hersteller traditionell die wichtigsten Entwicklungen des Jahres präsentieren, weswegen sich nur hoffen lässt, dass sich die ersten Gerüchte um die Ankündigung von diversen HTC-Geräten aus allen Kategorien nicht bestätigen werden.
Hinweis: Der Inhalt dieses Kommentars gibt die persönliche Meinung des Autors wieder. Diese Meinung wird nicht notwendigerweise von der gesamten Redaktion geteilt.