Kommentar: Die Gamescom 2012 steht im Zeichen von Free-to-Play
F2P – Fluch oder Segen
Größer, weiter, besser? Auch wenn die meisten Technik- und Entertainment-Messen in den vergangenen Jahren mit mehr Ausstellungsfläche und mehr Besuchern glänzen konnten, wurde auch in diesem Jahr – und wie in den Jahren zuvor – im Vorfeld und bei der Nachbereitung der großen Ausstellungen immer wieder gerne diskutiert, ob und inwieweit sich die Massenveranstaltungen für Besucher und Aussteller noch lohnen. Im Kern lautet die vorgebrachte Kritik dabei, dass die gängigen Messen für die Hersteller teuer und wenig effektiv sind, während die Besucher und Interessierten häufig nur mit bereits auf separaten Events angekündigten Inhalten beglückt werden.
Dieser Kritik muss sich auch die soeben zu Ende gegangene Gamescom 2012 stellen, denn immerhin wurden viele der dort spielbaren oder zumindest thematisierten Inhalte längst angekündigt. Geht es zunächst nach gängigen aber nicht per se aussagekräftigen Indikatoren, läuft bei der gamescom allerdings nach wie vor alles rund. So zeigten in diesem Jahr laut Messe-Angaben über 600 Aussteller aus 40 Ländern auf einer Fläche von 140.000 Quadratmetern Präsenz, was im Vergleich zum Vorjahr nicht nur ein Plus von acht (Aussteller) bzw. 15 (Fläche) Prozent, sondern auch die bisher besten Zahlen überhaupt bedeutet. Auch wenn es zuvor wieder aufgrund des Fernbleibens von Herstellern wie Microsoft und Nintendo Aufsehen gab, konnten die Verantwortlichen dem Relevanzargument auf Basis dieser Zahlen im Vorfeld doch gut begegnen. Am Ende kamen mit 275.000 Besuchern genau so viele wie im letzten Jahr.
Allerdings: Die ganz großen, überraschenden und bahnbrechenden Ankündigungen gab es dann in der Tat nicht zu bestaunen. Stattdessen übten sich selbst die größten Vertreter der Branche darin, ihre Pressekonferenzen mit kurzen Trailern zu bereits bekannten Titeln, wenigen neuen Informationen und mäßig brisanten Neuankündigungen aufzubauschen.
War die Gamescom für Informationsjunkies also gänzlich uninteressant? Nicht ganz, denn eine gängige Antwort auf die (vermeintlich) mangelhafte Relevanz von Messen kam in Köln tatsächlich deutlich zum Tragen: Messen bilden Trends ab.
Hinter dieser Floskel steckt im Falle der Gamescom 2012 einige Substanz. Zu keiner Zeit und nicht mal auf der erst kürzlich abgehaltenen E3 wurde nämlich derart deutlich, dass die gesamte Spielebranche gerade einen fundamentalen Wandel durchläuft. Das Stichwort lautet dabei natürlich „Free-to-Play“ (F2P) – ein Begriff, der sich grob wie folgt beschreiben lässt: An die Stelle von aufwändigen, kostspieligen, idealerweise fertig entwickelten und dementsprechend für die Spieler kostenpflichtigen Projekte treten Inhalte, die von den Spielern häufig von der Alpha-Version an begleitet (und teils sogar finanziert werden, Stichwort: Kickstarter) werden, grundsätzlich kostenlos gespielt werden können, dabei aber auch für sich beanspruchen können, längst nicht perfekt bzw. eben in einer stetigen Weiterentwicklung befindlich zu sein.
Free-to-Play ist damit natürlicherweise der Horror eines jeden klassischen Publishers, weil es das bisherige Verhältnis von Spielerschaft und Hersteller auf den Kopf stellt: Erstere werden in aller Regel stärker einbezogen, wobei eine unzureichende Qualität empfindliche Reaktionen zur Folge haben kann. Regten sich die Käufer bis vor einiger Zeit bei einem schlechten Spiel noch über die fälschlicherweise investierten 50 Euro für die Anschaffung auf, fällt die Ablehnung eines Free-to-Play-Titels – wohlgemerkt: ohne dass die Spieler zwingend Geld investiert hätten – für die Zuständigen unter Umständen wesentlich schmerzhafter aus: Die wichtigste Währung, die Anzahl der Spieler, sinkt, wodurch die Relevanz des Titels abnimmt und bereits geleistete Entwicklungskosten für die Katz gewesen sein können.
Versetzt man sich vor diesem Hintergrund in die Rolle der klassischen Publisher, wird deutlich, weswegen man dem Modell dort bis vor kurzem so ablehnend begegnet ist. Umso bedeutender ist nun, dass auf der Gamescom selbst eher unbewegliche, den F2P-Trend der vergangenen Monate und Jahre argwöhnisch beobachtende Publisher wie Ubisoft oder Electronic Arts – faktisch gezwungenermaßen – auf das Kostenlos-Paradigma setzen, was mit einem kleinen Paukenschlag deutlich macht, dass die Transformation einer ganzen Branche mittlerweile im Zentrum angelangt ist.
Diese Transformation ist deswegen so gehörig, weil Free-to-Play ganz offensichtlich nicht mehr nur eine Alternative für kleine Spiele-Klitschen ohne Kapital ist, sondern zu einem ernstzunehmenden Modell geworden ist, das die klassischen Entwicklungsschritte und das gängige Verhältnis zwischen Produzent und Kunden radikal verändert.
Für die Publisher bedeutet dies, dass mehr denn je ihre Rolle zur Diskussion steht: Erfolgreiche Free-to-Play-Experten à la Wargaming.net (u.a. „World of Tanks“), Hirez (u.a. „Tribez: Ascend“) oder wie der Browserspiel-Giganten Zynga belegen, dass die alte Rollenverteilung in den für Vermarktung und Vertrieb zuständigen Publisher und die für die Entwicklung verantwortliche Spieleschmiede längst nicht mehr zwingend ist. Aus zwei macht also potentiell eins, was den klassischen Publishern natürlich nicht schmecken kann und zuletzt dazu geführt hat, dass gerade Branchengrößen wie Electronic Arts verstärkt Studios geschluckt haben, um der Abnabelung der Spieleschmieden durch die Erschaffung einer eigenen Entwicklungsstruktur zuvor zu kommen.
Für die Publisher ist der F2P-Trend also mit der Notwendigkeit zur schmerzlichen Umwandlung gängiger Geschäftsmodelle verbunden, wobei der Ausgang von dieser Transformation noch völlig in den Sternen steht. Am Ende könnte durchaus eine Revolution stehen, bei der die Underdogs und F2P-Pioniere von heute die Dinosaurier unter den aktuellen Top-Publishern in Rente schicken.
Doch was bedeuten diese Entwicklungen schließlich für die Spieler? Für diese ist die spätestens in diesem Jahr in vollem Umfang angelaufene Umwandlung der Branche zunächst natürlich ein Segen: Man zahlt nichts oder zumindest erst dann, wenn man ein Spiel wirklich mag. Man erlebt die Entwicklung eines Titels viel näher mit, wobei die Entwickler weitaus stärker auf das Feedback der Spielerschaft eingehen müssen und sich kaum mehr grobe Schnitzer oder ein Über-den-Tisch-ziehen der Kunden erlauben können. Und man kommt kostenlos in den Genuss von den Früchten dieser Entwicklung, sodass neue Inhalte und Erweiterungen des Spielerlebnisses direkt erfahrbar werden, wobei mit der zuletzt teilweise ad absurdum getriebenen Politik bei den kostenpflichtigen Download-Inhalte gebrochen wird.
Ist Free-to-Play also für Spieler hui und für Publisher pfui? Ganz so einfach ist die Rechnung dann doch nicht, denn auch für Spieler birgt das neue Modell mit seinen unterschiedlichen Spielarten Gefahren. Die Erste ist offensichtlich und vieldiskutiert: Free-to-Play ist in Wahrheit nicht selten Pay-to-Win, was bedeutet, dass man immer häufiger in Dinge wie Ingame-Items oder -Funktionen investieren muss, wenn man wirklich in die Materie einsteigen und mit den Mitspielern mithalten möchte.
Doch auch eine andere, bisher häufig nur am Rande erwähnte Perspektive gibt Anlass zur Sorge. Während das F2P-Modell für MMO- und Browser-Projekte als sehr sinnvolle Grundlage erscheint, stellt sich doch die Frage, was mit inhaltlich anspruchsvolleren Titeln geschieht. Ist die Entwicklung von großangelegten, cineastischen Werken unter Free-to-Play-Bedingungen überhaupt noch möglich? Können „Core“-Werke unter diesen Bedingungen entstehen? Oder stößt Free-to-Play am Ende das bereits nennenswert geöffnete Tor zum Casual-Bereich auf, bei dem es primär auf schnellen, einfachen Spielspaß und viel weniger auf Aspekte wie inhaltlichen Tiefgang und Technik ankommt? Diese Fragen sollte man auch als Spieler bei aller Sympathie für die gegenwärtigen Entwicklungen nicht aus dem Blick verlieren.
Zusammenfassung
Geht es abseits der Möglichkeit zum Anspielen der in den nächsten Monaten zentralen Titel um konkrete Neuankündigungen und bahnbrechende Pressekonferenzen, war die diesjährige Gamescom kaum der Rede wert. Auf einer abstrakteren Ebene betrachtet, lässt sich aber immerhin ein zentraler Trend erkennen: Free-to-Play ist mittlerweile wirklich in der Mitte der Branche angekommen.
Was für die klassischen Publisher eine grundlegende Umgestaltung ihres Betätigungsfeldes und einige Risiken bedeutet, ist für die Spielerschaft auf den ersten Blick eine fantastische Entwicklung. Die Euphorie um diese Entwicklung sollte aber nicht den Blick darauf verstellen, dass mittelfristig auch für die Spieler einige Veränderungen anstehen – Stichwort: Pay-2-Win und die inhaltliche Qualität – die nicht per se positiv ausfallen müssen.
Vor diesem Hintergrund ändert sich schließlich eine Sache auf keinen Fall: Es ist weiterhin an den Spielern, durch ihre Wahl und Entscheidung den Qualitätsstandard hoch zu halten.
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