Snowden: „Digitaler Fingerabdruck“ verrät Online-Identitäten
Wenn die NSA jemanden im Netz lokalisiert hat, gibt es kein Entkommen mehr – dies legen Snowdens Aussagen im Interview mit der ARD nahe. Mit den gesammelten Daten lässt sich ein „digitaler Fingerabdruck“ generieren, durch den eine Person sogar dann verfolgt werden kann, wenn sie versucht, ihre Online-Identität zu verbergen.
Es war das erste TV-Interview von Snowden und nach dem Live-Interview auf FreeSnowden.is erst der zweite öffentliche Auftritt binnen kurzer Zeit, bei dem er vor dem Ausmaß der NSA-Überwachung warnt. Weitere Enthüllungen möchte Snowden allerdings den Journalisten überlassen, stattdessen kommentierte er das bis dato bekannte Material.
Dass es technisch überhaupt möglich ist, eine Überwachungsinfrastruktur mit dem Anspruch aufzubauen, weltweit alle Kommunikationsdaten zu erfassen, begründet Snowden mit den „niedrigen Sicherheitsstandards von Internetprotokollen und mobilen Kommunikationsnetzwerken“. Diese würden Geheimdienste für ihre Zwecke ausnutzen. Anschaulich schildert Snowden anhand von XKeyscore, wie die NSA es schafft, in den täglich anfallenden Datenbergen gezielt nach bestimmten Informationen zu suchen.
Von jedem, von dem man die E-Mail-Adresse besitzt, kann man den Verkehr auf jeder Webseite beobachten, auf jedem Computer. Jedes Laptop, das man ausfindig macht, kann man von Ort zu Ort über die ganze Welt verfolgen.
Edward Snowden
Mit den überwachten Online-Aktivitäten lässt sich zudem „etwas bilden, das man als Fingerabdruck bezeichnet, das heißt eine Netzwerkaktivität, die einzigartig“ ist. Wenn die NSA diesen Netzwerk-Fingerabdruck ermittelt hat, kann die jeweilige Person auch dann überwacht werden, wenn sie versucht, ihre Online-Identität zu verheimlichen. Offiziell rechtfertigt die US-Regierung das Programm mit dem Einsatz im Anti-Terror-Kampf, doch laut Snowden eignet sich XKeyscore ebenso hervorragend, um gezielt Mitarbeiter von Unternehmen auszuspionieren, die der NSA Zugriff auf sensible Informationen oder einen Zugang zu internen Firmen-Netzwerken verschaffen können.
Keine Zweifel an Wirtschaftsspionage
Obwohl die US-Administration gegenüber deutschen Regierungsvertretern explizit versichert hat, keine Wirtschaftsspionage gegen deutsche Unternehmen zu betreiben: Technisch ist es mit Programmen wie XKeyscore ohne Weiteres möglich. So ist es einer der interessantesten Punkte im ARD-Interview, wie deutlich Snowden formuliert:
Es gibt keine Zweifel, dass die USA Wirtschaftsspionage betreiben.
Edward Snowden
Sollte zum Beispiel Siemens im Besitz von Informationen sein, die nach Ansicht der NSA ein Vorteil für die nationalen Interessen der USA darstellen, dann würde man „der Information hinterherjagen und sie bekommen“. Die nationale Sicherheit der USA wäre hierbei unerheblich. Ein heikler Punkt für die US-Regierung, denn bislang verteidigte Präsident Obama die NSA stets mit dem Argument, dass der Dienst es auf Informationen abgesehen habe, die die nationale Sicherheit betreffen.
Immerhin: Wo die Wirtschaft rätselt, hat die Politik klare Verhältnisse. Dass Teile des hiesigen Politikbetriebs von US-Geheimdiensten wie gehabt ausspioniert werden, hatte Obama in der NSA-Rede – mehr oder weniger direkt – bestätigt. Selbst wenn der US-Präsident seine Zusage einhält und das Handy von Kanzlerin Merkel nicht mehr überwacht wird, hält es Snowden für „nicht sehr wahrscheinlich, dass jemand, der sich um Absichten der deutschen Regierung sorgt, nur Merkel überwacht“ – und nicht ihre Berater sowie andere Regierungsmitglieder und Minister.
Diese Einschätzung deckt sich mit einem Bericht der Bild von letzter Woche. Demnach hat die NSA einen digitalen Fingerabdruck von Merkel angelegt, um das direkte Umfeld der Kanzlerin zu ermitteln. „Wenn man über Jahre Daten sammeln kann, sind Kommunikations-Fingerabdrücke so präzise, dass wir eigentlich bei jeder wichtigen Entscheidung der Regierung wissen, welche Mitarbeiter daran beteiligt sind“, zitiert Bild einen anonymen NSA-Mitarbeiter.
Dieser Spionage-Ansatz verdeutlicht: Nicht nur durch Online-Aktiviäten hinterlassen Nutzer einen individuellen „Fingerabdruck“. Allein durch die Kontakte entsteht bereits eine digitale Spur, die einer bestimmten Person präzise zugeordnet werden kann. So können Dienste wie die NSA ein präzises Bild über die Aktivitäten einer Ziel-Person erhalten, selbst wenn diese – wie im Fall von Merkel – nicht direkt überwacht werden kann.
Kritik an Massenüberwachung und ausufernder Datensammlung
Deutliche Kritik übt Snowden an der Telefon- und Internet-Überwachung. Die massenhafte Sammlung von Telefon- und Internet-Daten sei verfassungswidrig, erklärte er bereits am Donnerstag im Rahmen des Live-Interviews auf freesnowden.is, bei dem die Fragen von Twitter-Nutzern stammen. Zudem warnt er vor den Risiken, die mit der verdachtsunabhängigen Überwachung einhergehen und macht diese an zwei Punkten fest:
- Die sogenannten „Chilling-Effects“. Diese beschreiben die gesellschaftlichen Folgen, wenn Bürger davon ausgehen, selbst in privaten Gesprächen nicht mehr sicher kommunizieren zu können, weil jedes Wort erfasst wird. Befürworter der NSA-Programme argumentieren zwar, dass eigentlich keine direkte Überwachung stattfindet, weil der größte Teil von den angesammelten Daten bereits herausgefiltert wird, bevor Geheimdienst-Mitarbeiter diese überhaupt zu Gesicht bekommen. Doch die Filterprogramme durchsuchen etwa E-Mails nach bestimmten Stichwörtern, die von Geheimdiensten als verdächtig eingestuft werden. Allein dieses Wissen reicht aus, damit Bürger nur noch eingeschränkt kommunizieren. Daher erklärte Snowden im ARD-Interview: „Darüber hinaus geschieht die Überwachung und der Missbrauch nicht erst, wenn Leute sich die Daten ansehen, er geschieht, indem Leute die Daten überhaupt sammeln.“
- Weil die NSA sämtliche Metadaten mehrere Jahre speichert, lassen sich sämtliche Aktivitäten eines Bürgers in diesem Zeitraum nachvollziehen – nach aktuellen Gesetzen sind das selbst bei US-Bürgern fünf Jahre. Durch die weit verbreiteten Smartphones beinhalten diese Daten sogar ein akkurates Bewegungsprofil. Wenn also Regierungs- und Ermittlungsbehörden – aus welchen Gründen auch immer – auf jemanden aufmerksam werden, lässt sich durch „retro-aktive Ermittlungen“ nachvollziehen, was jemand in den vorherigen fünf Jahren gemacht hat.
Angesichts der gesellschaftlichen Risiken könne die US-Regierung nach Ansicht von Snowden nicht heimlich entscheiden, jedes Mal die Daten zu speichern, wenn man „telefoniert, eine E-Mail schreibt, etwas überweist, mit einem Mobiltelefon Bus fährt, oder irgendwo eine Karte durch ein Lesegerät zieht“. Zumal in letzter Zeit verstärkt angezweifelt wird, ob die NSA-Programme tatsächlich so bedeutend für den Anti-Terror-Kampf sind, wie Geheimdienste und Regierungen stets betonen. Sowohl die von Obama eingesetzten Expertengruppe als auch der Think-Tank New America Foundation hatten ermittelt, dass zumindest die NSA-Telefondatensammlung in den USA praktisch keinen Einfluss haben.
Allein das reiche schon aus, so Snowden, um die Massenüberwachung der NSA grundsätzlich in Frage zu stellen. Snowden erklärte im Live-Interview:
Wenn wir in der Lage sind, jedes Gerät auf der Welt zu knacken, an dem wir interessiert sind (dazu zählt auch das Handy von Angela Merkel, wenn man den Berichten glauben kann), dann gebe es keine Entschuldigung, die Zeit mit dem Sammeln von den Telefondaten einer Oma aus Missouri zu verschwenden.
Edward Snowden