Anno 2070 im Test: Die Zukunft siedelt wie das Mittelalter
2/4Anno 2070 auf einen Blick
Man muss nicht einmal ein sonderlich konservativer Spielertyp sein, um sich in den ersten Momenten das ein oder andere Mal am neuen „Anno“ zu stoßen. Denn wo sonst ein idyllisch aufregendes Mittelalter-Setting lockt, legt „Anno 2070“ – ganz dem Namen entsprechend – den Fokus auf eine nahe Zukunft, in der grundlegend manches ähnlich, aber eben auch vieles anders ist. Ja, es ist gewöhnungsbedürftig! Doch, viel wichtiger: Nein, das Spiel scheitert daran nicht. Es wird nur eine neue, durchaus interessante Perspektive eröffnet. Doch der Reihe nach.
„Grundlegend ähnlich“ im Vergleich zu seinen Vorgängern ist das neue „Anno“ deswegen, weil es der Reihe in puncto Spielmechanik grundsätzlich treu bleibt. Dementsprechend errichtet man auf unterschiedlichen Inseln Kontore, um diese für seine Bevölkerung zu erschließen und die zur Versorgung und Sicherung notwendigen Rohstoffe abzubauen, die wiederum zur Herstellung von unterschiedlichen Produkten dienen. Auch „Anno 2070“ bleibt damit, was „Anno“ immer war: Ein klassisches Aufbaustrategiespiel.
Allerdings verändern sich durch den Settingwechsel natürlich automatisch zahlreiche Parameter. Statt großer, hölzerner Kriegsschiffe baut man futuristische Gefährte samt zerstörerischen Großgeschützen; statt nach Kaffee und Klunkern verlangt die Bevölkerung nach Dingen wie Kommunikation, Unterhaltung und „Funktionsdrinks“; statt Messing und Seile sind nun Kerosin und Karbon gefragt. Unter der Oberfläche der allgemeinen Spielmechanik hat sich somit einiges getan, denn die unterschiedlichen Produktlinien bringen nicht nur neue, vielfältige Gebäudetypen mit sich, sondern erfordern auch ein erneutes Einsteigen in abgeänderte Produktionsabläufe und die damit verbundenen Optimierungen.
Die Innovation von „Anno 2070“ wäre allerdings längst nicht so beträchtlich, wenn sich die Entwickler darauf beschränkt hätten, einem futuristischen Setting futuristische Warenabläufe, Fahrzeuge und Gebäude zur Seite zu stellen. Darüber hinaus haben die Macher auch an das Fraktionssystem Hand angelegt – mit drastischen Folgen. So kann der Spieler insgesamt auf drei unterschiedliche Gruppierungen zurückgreifen und muss diese obendrein auch noch parallel bedienen, was zahlreiche Möglichkeiten, aber auch ein gehöriges Maß an Komplexität mit sich bringt.
Die Konzeption der Fraktionen erfolgt anhand von in der realen Welt gültigen Konfliktlinien. Da sind die umweltbewussten, auf nachhaltiges Wirtschaften bedachten Ecos, die Strom aus regenerativen Ressourcen erzeugen und Wert auf gehobene Unterhaltung und eine ordentliche Ökobilanz legen. Und da sind die konsumaffinen Tycoons, die ihre Freizeit gerne im Kasino verbringen und die Energie möglichst günstig – und dementsprechend gerne auch in Kohle- oder gar in Atomkraftwerken – produziert sehen wollen, auch wenn dabei Belastungen für die Umwelt anfallen. Die besagte Ökobilanz – gemeint ist das neue Verhältnis aus umweltschonenden und -schädlichen Technologien – wird dadurch zu einem der wichtigsten neuen Werte, der darüber entscheidet, ob die Landschaft natürlich aussieht oder von Smogschichten überzogen wird und sich dabei auf die Laune der Ecos und den Ertrag der Landwirtschaft auswirkt. Über diesen sehr gegensätzlichen Bevölkerungsgruppen stehen schließlich die Techs, die mit Begeisterung ihre Umwelt erforschen und wieder eigene Spezialwünsche und Vorlieben haben.
Entscheidend für die Güte dieser Änderung ist dabei, dass die Unterschiede der Fraktionen nicht nur auf dem Papier existieren. Tatsächlich sind damit nicht nur unterschiedliche Gebäude, Produkte und Strategien verbunden, sondern auch eine differenzierte Spielmechanik: Eco-Technologie braucht in aller Regel Platz und kann unter Umständen teurer sein, schafft dafür aber ein energieeffizientes, umweltfreundliches Umfeld. Tycoon-Technologie kann als zentralisierte, kosteneffiziente Industrie angelegt werden, die auf vergleichsweise engem Raum produziert, dabei aber unerwünschte Nebeneffekte erzeugt.
In jedem Fall sind Konflikte vorprogrammiert. Zwar wählt man zu Beginn eines jeden Matches zunächst zwischen den Tycoons und den Ecos aus; schon ab der dritten Bevölkerungsstufe der Ausgangspopulation stoßen aber die anderen Fraktionen hinzu, sodass man plötzlich über drei Kategorien von Gebäuden und damit über jede Menge Möglichkeiten verfügt. Dies gilt umso mehr deswegen, weil die Tech-Fraktion dem Ganzen die Krone aufsetzt: Hier kann man nicht nur vielfältige Forschung betreiben, sondern auch auf Untersee-Plateaus siedeln, was abermals mit neuen Gebäudetypen und Möglichkeiten verbunden ist.
Je nach Mission oder Vorhaben ist es deswegen eine sehr wichtige Entscheidung, ob und in welchem Ausmaß man alle drei Fraktionen ansiedeln möchte. So bringt das damit verbundene Mehr an Bauoptionen, Produkten und (potentiell) Steuereinnahmen auch die Notwendigkeit einer feinen Balance mit sich: Wer eine Fraktion übervorteilt, muss schnell damit rechnen, dass nicht enden wollende Aufstände ausbrechen, die die Entwicklung massiv beeinträchtigen können. Hinzu kommt, dass auch die externen Vertreter der Fraktionen bespaßt werden wollen – und einem im Extremfall bei zu eindeutiger Ignoranz auch mal den Krieg erklären.
Unterm Strich stellen die neuen Fraktionen somit inhaltlich die größte Neuerung dar, die durch ihre Tragweite massiv die Spielmechanik verändert. Diese Veränderung wirkt sich sehr positiv aus, wenn man akzeptiert, dass man einige Stunden Spielzeit darauf verwenden muss, um in dem neuen System klarzukommen.
Mit Blick auf diese auch von „Anno“-Veteranen nicht zu unterschätzende Phase des Einlernens ist dann auch verständlicher, weshalb sich die Kampagne von „Anno 2070“ wie eine riesige, gut achtzehnstündige Einführung anfühlt. Doch auch wenn das in dieser Hinsicht Gebotene dadurch verständlicher wird – ein schlagendes Argument für eine solche Konzeption können wir nicht erkennen.
Im Kern basiert die Kampagne darauf, dass man Stück für Stück in die Funktionsweise von „Anno 2070“ eingeführt wird. Während man am Anfang die leichtesten Aufgaben erledigt, gerät man anhand von unterschiedlichen mehrstufigen Aufgabenstellungen im Verlauf der insgesamt elf Missionen immer tiefer in die Spielmechanik, sodass man am Ende bestens für Endlosspiele oder den Multiplayer gefeit ist.
Als umfassendes Tutorial taugt dieser Teil des Einzelspieler-Modus' also bestens – als spannende, tiefgehende Erzählung aber kaum. Dies liegt zum einen an der ziemlich lahmen Handlung, der man mehr als einmal anmerkt, dass sie nicht primär des Inhalts wegen, sondern zur Aufbereitung und Darstellung der Funktionen konzipiert wurde. Dementsprechend steht das Zusammenspiel mit den drei Fraktionen im Vordergrund, die nach anfänglichen Rivalitäten gemeinsam mit dem Spieler gegen die Super-KI F.A.T.H.E.R. ins Feld ziehen, um einen massiven Anschlag auf die Menschheit zu verhindern.
Auch wenn das Missionsdesign mit unterschiedlichen Aufgaben – von Liefer- und Produktionsaufgaben bis zu kriegerischen und diplomatischen Handlungen ist alles dabei – überzeugen kann, bleibt doch ein fader Beigeschmack, sodass sich festhalten lässt: Einführung schön und gut, aber ein wenig packender hätte die Kampagne durchaus sein können!