Klassiker neu entdeckt: System Shock 2 (1999) im Test
Vorwort
„Bioshock“ überzeugt seit dem ersten Serienteil mit der ungewöhnlichen Story, die überraschend und vielschichtig ausfällt – inklusive kritischer Untertöne, die in einem Ego-Shooter mit RPG-Elementen eher selten platziert werden. Eine neuartige Kombination ist das allerdings nicht, denn das Drehbuch schreibt auch im aktuellen Teil „Infinite“, der am 26. März erscheint, Ken Levine, der bereits den Sci-Fi-Horror-Hit System Shock 2 nach demselben Muster gestrickt hat – damals, im Jahr 1999.
Da gute Spiele dieses Genres nach dem jüngsten Hoffnungsträgern Dead Space 3 und Aliens: Colonial Marines Mangelware sind, gibt es gleich zwei Gründe, sich den Oldie erneut anzuschauen. Der gilt obendrein als eines der besten jemals entwickelten Spiele, zusammen mit seinem direkten Vorgänger sogar als Wegweisend für Größen wie Deus Ex.
Gerechtfertigt wird der Platz im Spiele-Olymp unter anderem mit der dichten Atmosphäre, der ausgefeilten Story und nicht zuletzt dem recht offenen Leveldesign. Die Zutaten für Spielspaß sind unter anderem deshalb immer noch vorhanden. Ein einsamer Spieler, ein menschenleeres Raumschiff in den unendliche Weiten des Kosmos', Aliens und in der Hauptrolle eine größenwahnsinnige KI mit beunruhigendem Mitteilungsdrang verraten ein gesundes Konzept. Was nach 14 Jahren vom Spiele-Titanen noch oder nun gruselt, klären wir im Folgenden.
Geschichte und Hintergrund
Die Geschichte von System Shock 2 passt fast schon auf einen Bierdeckel: Im Jahr 2114 bauen Mega-Corporations ein erstes, überlichtschnelles Raumschiff. Die von Braun wird sogleich mit militärischer Eskorte auf Reise geschickt; an der Vertrauenswürdigkeit von Großkonzerne hat sich seit jeher nichts geändert. Der Spieler ist natürlich Teil der Begleitmission und darf alsbald aus dem Kälteschlaf erwachen, während eine Wissenschaftlerin über Funk von Amnesie, Aliens, Chaos und einem wahnsinnigen Schiffscomputer erzählt. Und den neuen Cyber-Implantaten, die man wohl wollte und nun hat. Ganz nebenbei solle man zwecks Rettung der Wissenschaftlerin schnellstens herbeieilen, denn die werte „damsel“ ist in einmal mehr in „distress“ .
Der unvermittelte Informations-Overkill setzt den Spieler nicht nur völlig verwirrt in eine unbekannte Umgebung, die sogleich dramatisch von Explosionen und Blutspuren geziert wird, sondern sorgt für steten Druck. Denn natürlich kann man die Werte Dame nicht einfach aufsuchen, ohne vorher diverse Hindernisse aus dem Weg geräumt zu haben, überraschende und spannende Wendungen inklusive. Viele der anfangs eingesetzten Bilder wie das der Frau in Notlage erweisen später jedoch als Schall und Rauch. So wie der Spieler das Spiel spielt, spielt das Spiel mit dem Spieler – oder dessen Erwartungen. Rudimentär gleicht das Konzept dem von Bioshock frappierend, denn stets steckt man in einen abgeschlossenen Raum getrennt von einer größeren Gesellschaft – Rapture wie Raumschiff – in dem sich gegenwärtige Strömungen und Ideen zu Extremen entwickelt haben. System Shock streift genetische Experimente, Kybernetik sowie Kollektivität und Egozentrismus als nächste Schritte menschlicher Entwicklung, die gleichwohl beide trotz oder gerade wegen ihrer Intelligenz auf Moral verzichten und ihren Absolutheitsanspruch auch dem Spieler deutlich vortragen. An Vielschichtigkeit mangelt es auch nach rund 14 Jahren nicht, zumal die Themen an Aktualität nicht eingebüßt haben. Vorangetrieben wird die Story bis zu ihrem furiosen Finale fast gänzlich ohne Zwischensequenzen sowohl über gefunkte Sprachmitteilungen, als auch über auf Audiorekordern hinterlassenen Nachrichten und die Neugier des Spielers beim Erkunden des Raumschiffes selbst. Das funktioniert wie Jahre später in Bioshock und trägt zusammen mit „Geistern“, die Szenen der vergangenen Tage zeigen, in Verbindung mit den selbst in der deutschen Version guten Sprechern unheimlich zur Atmosphäre bei.
Spielablauf und Technik
Für Unterhaltung sorgen auf den Streifzügen durch die beiden Raumschiffe mit stetig steigendem Aktionsradius abseits der immer noch grundsoliden Shooter-Mechanik die RPG-Elemente: Dank dreier Klassen sowie verschiedener Fertigkeitsbäume und Charakterwerte, die sich an Upgrade-Stationen aufrüsten lassen und so Werte wie Waffenschaden oder Laufgeschwindigkeit beeinflussen, sind verschiedene Spielstile möglich. Als Hacker kommt man früher oder, heutzutage ungewohnt, überhaupt an zusätzliche Vorräte und darf Elektronik sowie Roboter hacken, während der Special-Forces-Soldat über PSI-Kräfte verfügt. Der Marine muss hingegen Keycodes suchen, teilt dafür aber deutlich besser aus, wobei durch die nötige Spezialisierungen nicht einmal diese Klasse in einem Durchgang jede Waffe nutzen kann.
Nützlich sind die Digital-Aufrüstungen durchaus, weil die Level regelmäßig neu bevölkert werden, selbst wenn man sie nicht verlässt. Die Gegner agieren dabei aggressiv und überaus zielsicher, lediglich um Ecken kann nicht jeder Typ navigieren. Dennoch wird aus diesem Grund ein Gefühl latenter Bedrohung sichergestellt, gerade weil Munition für die schnell verschleißenden Schusswaffen knapp ist und an seltenen Verkaufsautomaten hohe Summen kostet – sofern dort denn das richtige Kaliber oder der richtige Munitionstyp verfügbar ist. So zwingt das Spiel durch das notwendige schwäbische Sparverhalten auch später noch in den risikoreichen Nahkampf.
Schweiß auf die Stirn zaubert neben der hervorragenden Audiokulisse mit stetig plappernder, ebenso wahnsinnigen wie arroganten KI und stöhnenden Aliens auch der Verzicht auf die in heutigen Spielen unverzichtbaren Hilfsmittel wie Kompass oder gar ein „Navigationssystems“, wie es Dead Space einsetzt. Ergo muss sich im Level oder mit Hilfe der eingeschränkt hilfreichen Karte sowie anhand von Wegweisern orientiert werden. Durch die teilweise auftretende Orientierungslosigkeit in Verbindung mit stetem Druck durch Gegner wird die Atmosphäre daher deutlich dichter, Frustpotential gibt es dank des logischen Levelaufbaus aber nicht. Das Spiel gibt stets ein klares Ziel vor, das jederzeit im Notizbuch aufgerufen werden darf. Auch die einfache Eingabe von Schlüsselcodes unterstützt die Immersion des Spielers und die Tiefe des Spielerlebnisses, weil manuell auf den Konsolen direkt im Spiel getippt wird. Immer wieder kommen zudem nette Ideen zum Vorschein: Die Suche nach einem dringend nötigen Elektronikmodul erfordert das Suchen eines Lagerraumes und anschließend die Indentifizierung des gewünschten Bauteils aus den Beständen ähnlicher Komponenten – eben so, wie man es auch „in echt“ machen müsste.
Die Forschungskomponente verstärkt die Immersion weiter, denn das in Echtzeit ablaufende Untersuchen von Alien-Technologie und Überresten mit Hilfe von Chemikalien, die es logischerweise erst zu besorgen gilt, gibt stimmig Boni respektive neue Waffen und verrät Hintergrundinformationen. Besonders steil wird die Lernkurve trotz der zahlreichen Optionen und Features jedoch nicht, wenngleich eine Einarbeitungszeit erforderlich ist. Die meisten Features führt das Spiel in kleinem Rahmen einmal vor, zudem hilft das übersichtliche, per Tastendruck aufrufbare Interface. In diesem Modus kann über die Maus komfortabel jeglicher Aspekt vom Forschen bis hin zum Inventar und des für die Waffe verwendeten Munitionstyps verwaltet werden, dessen ohnehin arg begrenzte Größe (natürlich) von den Charakterwerten abhängt – das Spiel wartet an jeder Ecke mit ausbalancierten, interessanten Entscheidungsmöglichkeiten auf.
System Shock 2 spielt sich daher zunächst ungewohnt, entwickelt aber dank der bemerkenswerten Antagonisten schnell einen unwiderstehlichen Charme. Gerade die Antagonisten laufen zu Hochform auf und überzeugen ähnlich dem Bond-Widersache Dr.No auch heute noch. Negativ macht sich hier und da allerdings die auf DirectX 6 basierende Engine bemerkbar. Explosionen wirken eher statisch, komplexere Animationen hakelig und auch die Klonkleider der Opponenten stören zunächst. Das Alter des Unterbaus fällt allerdings nur während des Einstiegs ins Gewicht und rückt nach der Initialzündung zunehmend in den Hintergrund: Horror spielt sich ohnehin am besten im eigenen Kopf ab, wozu es ein furioses Grafik-Feuerwerk nicht zwingend benötigt. Ohne Taschenlampe und Kompass schummrige Gänge entlang zu schleichen, düsteren Geschehnissen und dem jüngst vergangenen Drama auf der Spur, hat immer noch eine Sogwirkung sondergleichen. Die durch abwechslungsreiche, nie aufgesetzt wirkende Aufgaben stets angenehm aufgelockerten Gefechte laufen trotz der RPG-Elemente schneller als von modernen Shootern gewohnt ab. Zwar gibt es ein rudimentäres Deckungssystem, welches das Neigen um Ecken erlaubt, ratsam ist es wie bei allen Shootern älterer Jahrgänge dennoch stets in Bewegung zu bleiben und sich auf Reflexe zu verlassen.
Die Technik erweist sich grundsätzlich als pflegeleicht. Prinzipiell läuft System Shock 2 auf aktuellen Rechnern mit modernem Betriebssystem ohne Probleme, lediglich die Installation macht unter Windows-NT-basierten Softwareumgebungen Schwierigkeiten. Abhilfe schafft es, den Ordner „SHOCK“ der Installations-CD auf die Festplatte zu kopieren und anschließend das „SS2Tool“ auszuführen. Dieses enthält nicht nur (wahlweise) eine deutsche Übersetzung der Spieltexte, sondern außerdem Mod-Support sowie den letzten offiziellen und einen Fan-Patch. Zusätzlich spendiert das Tool Widescreen-Auflösungen mit angepasstem Sichtfeld, was es zu einer Pflichtwahl macht. Auch die Mod-Unterstützung lohnt sich, denn diese müssen lediglich im Ordner „DataPermMods“ entpackt werden. Auf jeden Fall empfehlenswert sind „SHTUP“, „CyberBlutch Rebirth 02“ und „Vurt's Hi-Res Space Textures“, die AI- sowie Umgebungstexturen etwas aufhübschen. Sie sind in sämtlichen unserer Screenshots zu sehen. Monitore und Terminals beispielsweise profitieren enorm und sind anschließend knackscharf ablesbar – im Gegensatz zu denjenigen in Colonial Marines. Ansonsten hat die aktive Community an einer großen Anzahl weiterer Texturen, Waffen, teils auch Karten oder Spielablauf-Änderungen gearbeitet.
„Do you feel the fears swell inside that filthy bag of meat? What is like to be afraid? Why do you cling to such a pathetic existence? If you could only feel a spark of my glory.“
Fazit
Psi-Fähigkeiten, eine komplexe Geschichte, gepflegt wahnsinnige Charaktere, verschiedene Munitionstypen und Audiobänder: In vielen Punkten gleicht System Shock 2 seinem Nachfolger im Geiste, ist aber durch den offeneren Aufbau und die RPG-Elemente komplexer. Nebenbei schlägt das Spiel immer noch viele aktuellere Vertreter seines Genres. Lediglich während der ersten Spielminuten kämpft Neugier ob der aufkommenden Atmosphäre mit der brachial gruseligen DirectX-6-Optik und den Animationen. Anschließend rückt die technische Seite erst langsam, dann immer schneller in den Hintergrund. Die durchdachte Handlung und die atemberaubende (Horror-)Atmosphäre, gestützt durch den gerade nicht entmündigende Spielverlauf mit kreativen, ungewöhnlichen Elementen, entwickeln spätestens nach der ersten Spielstunde beim Erkunden des menschenleeren, aber nicht unbelebten Raumschiffes eine unheimliche Sogwirkung, der sich zu entziehen kaum möglich ist. Dazu kommen die immer noch bemerkenswert offene, stets logisch aufgebaute Spielwelt mit kleineren Rätseleinlagen nebst extrem hohem Wiederspielwert als Sahnehäubchen. Zeitgemäß ist in System Shock 2 noch eine ganze Menge. Alleine im Weltall? Jederzeit!
Schnellcheck | System Shock 2 |
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Getestete Version | 2.4 |
Altersfreigabe | ab 16 Jahre |
Empfohlene Systemanforderungen | Pentium II (266 MHz), 64 MB RAM, Grafikkarte mit 8 MB Speicher, 1 GB HDD |
Widescreen | SS2Tool |
Mods | u.a. HD-Texturen (SHTUP, Vurt's Hi-Res Space Textures, Cyber Blutch Rebirth 02) |
Kompatibilität | bis Windows 8 |
Probleme | Installation nur über SS2Tool |
Empfehlung | Ja |
In dieser Serie „Klassiker neu entdeckt“ bereits erschienen:
- Max Payne (2001)
- MechWarrior 4: Mercenaries (2002)
- Medal of Honor: Allied Assault (2002)
- Tomb Raider 2 (1997)
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