Microsofts erste Start-up-Klasse: Eine Reportage aus Berlin
Unter den Linden
Das Boulevard „Unter den Linden“ ist für viele Unternehmen eine der ersten Adressen, wenn es um eine Niederlassung in der deutschen Bundeshauptstadt geht. Auch unter den Großen der IT-Branche ist das nicht viel anders. Wer hinter den Wänden der Dependance von Microsoft allerdings ausschließlich noble Ausstattung und konservative Zurückhaltung vermutet, der irrt. Besonders im fünften Obergeschoss und in den vergangenen Monaten ging es dort hoch her – und das Kind hatte einen Namen: der „Microsoft Ventures Accelerator“. ComputerBase hat sich vor Ort umgesehen.
„Für uns war es eine Win-win-Situation und die Chance, Innovationen direkt ins Haus zu holen und von diesen zu lernen“, kommentiert Marius Sewing als CEO of Residence und Programmzuständiger das Start-up-Programm von Microsoft, das im vergangenen November in Berlin an den Start ging. Neun Gründerteams konnten auf diese Weise über vier Monte lang unter das Dach der Niederlassung von Microsoft ziehen und kamen in den Genuss einer umfassenden Betreuung.
„Wir hatten einmal in der Woche ein Treffen mit dem CEO, dasselbe mit dem CTO“, erklärt Anthony Hsiao aus dem Team von „Productive Mobile“ gegenüber ComputerBase. Die technische Infrastruktur in Form der ansonsten für Anwender kostspieligen „Microsoft Cloud“ wurde den Teams für den gesamten Zeitraum des Programmes über gestellt. Darüber hinaus durfte sich die soziale Umgebung besonders innovationsfreundlich ausgewirkt haben. Wer mitbekommt, dass in den anderen Teams auf Hochtouren gearbeitet und externe Meetings vereinbart werden, dürfte schnell zusätzlichen Ansporn bekommen haben. Und voneinander lernen und gemeinsam arbeiten war auch Bestandteil des Microsoft-Programmes – ging es in der fünften Etage räumlich doch ziemlich eng zu.
Großes Rampenlicht ohne Konkurrenz
Eine echte Konkurrenz waren die einzelnen Start-up-Teams untereinander nicht – und am Ende gab es auch keinen ersten Preis. Bei der abschließenden „Demo Night“ mit einem professionellen Ansager und akustischen Effekten konnten Besucher – darunter auch potenzielle Investoren – aber trotzdem den Eindruck einer großen Siegerehrung gewinnen. Und alle Teams standen gleichermaßen im Rampenlicht. Durchgeplant und präzise getaktet – so mancher Besucher mochte von der „Demo Night“ einen etwas oberflächlichen Eindruck bekommen haben. „Für alle Start-ups sehe ich eine erfolgreiche Zukunft. Und uns von Microsoft bleiben die Teams hoffentlich alle als Sparringspartner in einer Alumni-Verbindung treu“, lobt Marius Sewing die Leistungen der Teams, die sehr unterschiedlich daherkommen. Manche sind technisch gar nicht mal so innovativ, sondern glänzen vor allem durch eine professionelle Außendarstellung.
Einiges zu sehen gibt es bei „Pinio“. Hier entstand eine Diskussionsplattform, die auf den Austausch persönlicher Videobotschaften anstatt von Textbeiträgen setzt. „Medlanes“ ist ein Online-Portal für Arztkonsultationen, und „MyLorry“ vermittelt – GPS-basiert – Kontakt zum nächstgelegenen LKW für schnelle Transporte. „Cringle“ ist ein Bezahldienst für bargeldlose Transaktionen unter Freunden, und „UnlockYourBrain“ ist ein mobiler Dienst, der die Merkfähigkeit des menschlichen Gedächtnisses weiter verbessert.
Clevere Synergien
Auf Synergieeffekte setzt der kostenfreie Fremdsprachentrainer „Babbo“. Der von den Endnutzern dabei eingespeiste „Native Input“ hilft schließlich dabei, die Übersetzungsprogramme von Suchmaschinen zu verbessern, und trägt damit zur Refinanzierung bei. Wie sich das in der Praxis bewährt, wird sich zeigen.
Eine Vision hatten auch Alexander Oelling und Robert Peschke von „Sensorberg“. Der studierte Mathematiker einerseits und Wirtschaftsspezialist andererseits beabsichtigten eine Weiterentwicklung des „QR-Codes“, die nicht erst eingescannt werden muss. Im Endeffekt entstanden so eigene „Sensorberg“-iBeacons, die in einem bestimmten Umkreis automatisch Standortinformationen auf mobile Endgeräte kommen lassen – vorausgesetzt, man hat einmalig eine entsprechende App dafür installiert.
Die Idee zog, und noch vor Ende des Start-up-Programmes klopfte bereits ein Investor mit einer Finanzierung von über einer dreiviertel Million Euro an. „In Kürze werden wir 30 Mitarbeiter sein – und suchen uns dafür wirklich nur die Besten aus“, erklären die Geschäftsführer von „Sensorberg“. Mittlerweile haben sie ihren Schreibtisch im Dachgeschoss der Dependance am Prachtboulevard gegen ein Großraumbüro in einem Kreuzberger Hinterhof eingetauscht. Trotzdem gehören ihnen auch dort nicht alle Schreibtische. Und was gibt es dazu zu sagen, dass sie bei Microsoft eigentlich mit einer Apple-Marke gearbeitet haben (iBeacon)? Wurde nicht weiter beanstandet und sorgte allenfalls für ein Schmunzeln bei den anderen Teams.
Win-win-Konzept geht auf
In einem zweiten Schritt scheint Microsoft trotzdem von den Innovationen der Start-ups zu profitieren – die anvisierte Win-win-Situation scheint aufzugehen. Und wieso sollte der Software-Gigant auch Infrastruktur zum Nutzen der Konkurrenz bereitstellen?
„Sensorberg“ arbeitet im Moment jedenfalls daran, für die eigene Innovation auch eine Unterstützung durch Microsoft-Telefone zu entwickeln. „Die Idee hatten wir am Anfang aber noch nicht“, fügt Alexander Oelling hinzu. Auch das Team von „AttachingIT“ könnte sich für Microsoft noch als vorteilhaft erweisen, hat es doch das etablierte E-Mail-Programm „Outlook“ um einen Menüpunkt erweitert, mit dem auch große Dateien zwischen E-Mail-Klienten ausgetauscht werden können. „Auch für AttachingIT sehe ich eine super Zukunft“, so Marius Sewing von Microsoft. Ob es mit einer weiteren Zusammenarbeit hinsichtlich des Programmes klappt, könne er zum aktuellen Zeitpunkt aber noch nicht sagen. Nicht in allen Abteilungen des Unternehmens ist der „Ventures Accelerator“ momentan schon ein Begriff.
Die relative Offenheit des IT-Konzerns im Zusammenhang mit dem Start-up-Programm war auch für das Team von „Productive Mobile“ entscheidend, sich nur dort zu bewerben – um anschließend in einer Auswahl von 9 aus 300 zu reüssieren. „Microsoft nimmt keine Geschäftsanteile, und man bleibt die gesamte Zeit über ein eigenständiges Unternehmen. Außerdem ist das Programm nicht verschult“, so Anthony Hsiao. Andererseits gibt es auch kein Geld. Dabei hatte sich „Productive Mobile“ einst unter dem Namen „EvoMob“ beworben. Das Konzept der Bewerbung sah vor, E-Commerce-Plattformen für mobile Endgeräte zu optimieren.
Gleich zu Beginn des Start-up-Programmes stand dann allerdings die heiße Phase der „Customer Validations“ an: Externe Mentoren prüften die Konzepte der einzelnen Start-ups auf Herz und Nieren, kritisches Hinterfragen war dabei Pflicht. Für Anthony Hsiao und sein Team wurde dabei schnell klar, dass sich ihr Konzept besonders gut auch auf firmeninterne, webbasierte Dienste übertragen ließe. „Ein Großteil der Software in Großunternehmen ist heutzutage webbasiert“, so Anthony. Auf diese Weise wurde aus „EvoMob“ schließlich „Productive Mobile“ - und auch hier laufen aktuell die Telefone mit Anfragen von Kunden heiß.
Nicht auf die leichte Schulter nehmen
Trotz des „Pivotierens“ ist es unerlässlich, mit relativ präzisen Vorstellungen in das Start-up-Programm hineinzugehen. „Die Bewerbungen müssen schon sehr konkret sein“, so Marius Sewing. Wer eine gute und klar umrissene Idee hat, kann durchaus Erfolg haben. Momentan wird der erste Durchgang des Start-up-Programmes bei Microsoft in Berlin evaluiert, bevor in Kürze die Vorbereitungen für die nächste „Start-up-Klasse“ mit Beginn im August diesen Jahres anlaufen. Bewerbungen sind online noch bis zum 2. Juni möglich. Dabei gilt das Motto: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.
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