Ether One & Fract Osc im Test: Zwei Indie-Adventures. Ein Kontrast.
2/4Ether One auf einen Blick
Das Abenteuer in Ether One beginnt mit dem kurzen Aufenthalt in der Forschungseinrichtung des „Ether Institute“. Wie die Werbeposter an den Wänden des Lifts schon verraten, hat sich das Institut der Telepathie verschrieben, um Patienten auf diese Weise ihre Erinnerungen zurückzubringen. Wer wir sind oder in welchem Kontext die Männerstimme zu uns steht, die wir während unserer Anwesenheit im Fahrstuhl wahrgenommen haben, bleibt jedoch vorerst ebenso ungeklärt wie auch die Frage, wieso niemand an der Rezeption sitzt. Doch offensichtlich werden wir erwartet, denn schon kurz nachdem wir die Klingel am Tresen der Rezeption betätigen, begrüßt uns eine wohlgesonnene Frauenstimme und stellt sich als Doktorin über die Sprechanlage vor. Laut ihr werden wir in der „Restoration Chamber“ Nummer 3 erwartet und benötigen demnach eine Zugangskarte, die für uns in einem der Schubfächer des Tisches an der Rezeption hinterlegt wurde.
Einige Klicks mit der linken Maustaste später befindet sich die Zugangskarte in unserem Besitz und wir uns auf dem Weg zu dem Raum, den uns die freundliche Frauenstimme nannte. Beim Versuch, einige herumliegende Spritzen und Fläschchen während des Schlenderns durch die Einrichtung aufzuheben, werden wir mit einer Einschränkung konfrontiert, die schon wenige Minuten später ihre Erklärung findet: So können wir nur einen Gegenstand gleichzeitig bei uns tragen. Wer Gegenstände ablegen möchte, muss die dafür vorgesehenen Ablageflächen nutzen. Angekommen in Raum Nummer 3, erfolgen die nächsten Anweisungen seitens der Doktorin: Bevor wir uns der Patientin widmen können, laut Akte handelt es sich um eine 69-jährige Lehrerin, müssen wir die Vorrichtung wieder lauffähig machen. Dazu ist der Austausch einer elektrischen Sicherung mit dem richtigen Widerstand notwendig. Gesagt, getan. Wir nehmen Platz in der monströs anmutenden Stuhlkonstruktion und begeben uns in den ersten Fall.
Kurz darauf finden wir uns in einem Sessel wieder, der mit der Maschine, in die wir wenige Momente vorher eingestiegen sind, bis auf den gleichen roten Farbton nur wenig gemein hat. Wie uns die Frauenstimme verrät, befinden wir uns in „The Case“, einem Ort unabhängig von der Erinnerung unseres Patienten, zu dem wir jederzeit mittels Drücken der „T“-Taste zurückkehren können. Zu Beginn ist „The Case“ nur spärlich eingerichtet – ein paar leere Regale, diverse verschlossene Türen, ein Filmprojektor, ein Dunkelraum und zudem ein Tresor, dessen Zahlenschloss fehlt. Doch lange bleibt der Raum nicht in diesem kahlen Zustand, denn für Freunde herausfordernder Rätsel bietet Ether One genügend Anreiz, „The Case“ mit Gegenständen aus den Erinnerungen der Patienten zu füllen.
Das Händchenhalten beschränkt sich jedoch auf die kurze Einführungssequenz bis zur ersten Ankunft in „The Case“. Ab diesem Zeitpunkt steht dem Spieler komplett frei, ob - und wenn ja, in welcher Reihenfolge - er die zahlreichen Rätsel des Spiels löst. Die Entwickler sind demnach beim Design ihres Spiels eine interessante Wette eingegangen: Spieler, die ausschließlich am Erkunden der Stadt und ihrer Geschichte interessiert sind, können dies tun, ohne jemals Zeit in die ziemlich kniffligen Rätsel zu investieren. Beim Erkunden der Stadt finden sich Erinnerungsfragmente in Form roter Schleifen, die beim Anklicken Monologe auslösen und damit einen Teil der Geschichte preisgeben. Zwar ist es Spielern so möglich, innerhalb von wenigen Stunden den Abspann von Ether One zu Gesicht zu bekommen, erstrebenswert ist das Durchs-Spiel-Hetzen jedoch nicht.
Seinen vollen Reiz entfaltet Ether One nämlich erst im Zusammenhang mit Stift und Papier, welche zum Lösen so mancher Rätsel unerlässlich sind. Lässt sich zu Beginn des Spiels eine Zahlenkombination für ein Schloss noch auf der Unterseite eines in der Nähe befindlichen Tellers entdecken, zieht der Schwierigkeitsgrad beim Lösen der Puzzles schon kurze Zeit später ordentlich an. Über die ganze Stadt hinweg sind 20 Projektoren verteilt. Jeder dieser Projektoren steht dabei sinnbildlich für eine Erinnerung, die, wie der Projektor selbst, erst in mehreren Schritten eines dazugehörigen Puzzles zusammengesetzt werden muss. Nicht selten tappten wir bei so manchem anspruchsvollen Rätsel im Dunkeln, weil wir essentielle Hinweise aus Unachtsamkeit oder Übermüdung schlichtweg übersehen oder gar nicht erst als solche wahrgenommen hatten. Der Teufel steckt wie so oft im Detail, und ein wacher Geisteszustand ist geradezu Grundvoraussetzung, um sich nicht selbst zu frustrieren.
In unserem Fall ging die Wette der Entwickler voll auf: Obwohl rein optional, entfesselten die Rätsel schon im ersten Abschnitt von Ether One einen so starken Ehrgeiz, dass wir bis zum Schluss bemüht waren „das komplette Bild“ präsentiert zu bekommen und uns mit nichts Geringerem zufriedengaben. Dieser Ehrgeiz ist nicht nur der angenehm knackigen Herausforderung und der abwechslungsreichen Puzzles geschuldet, sondern geht zu großen Teilen auf die starke Atmosphäre und die erstklassig vertonten Monologe zurück, mit denen Spieler für ihren Aufwand belohnt werden. Allein Letztgenannte waren mehr als Anreiz genug, sich in der Gedankenwelt von Ether One fallen zu lassen und jedes unscheinbare Detail zu notieren, das sich später womöglich einmal als nützlich erweisen könnte.
So stand am Ende unserer Reise ein doppelseitig beschriebener Notizzettel, der an die kryptischen Niederschriften eines Wahnsinnigen erinnerte: Von Nummern und Zahlenkombinationen über Namen und Zeichnungen bis hin zu Morse-Code war alles vertreten – und verhalf uns auf die eine oder andere Weise auf den vielen kleinen Zwischenetappen zum alternativen Ende des Spiels.
Unabhängig von der eigenen Spielweise bleibt festzuhalten, dass Ether One besonders im späteren Verlauf der Geschichte eine emotionale Wucht entwickelt, die wir zu Beginn unseres Tests aufgrund des gemächlichen Spieltempos niemals erwartet hätten. Mit viel Empathie und erzählerischer Kreativität ist es den Entwicklern gelungen, der nach wie vor unheilbaren Krankheit Demenz ein Gesicht zu verleihen, das berührend und grauenerregend zugleich ist. Wer sich auf die nicht gerade einfach zu verdauende Thematik von Ether One einlässt, wird mit einer der interessantesten Erzählungen belohnt, die das Medium Computerspiel in den letzten Jahren hervorbrachte.