Netzpolitik.org: Ministerien wussten frühzeitig von Landesverrat-Ermittlungen
Nachdem die Landesverrat-Ermittlungen gegen Netzpolitik.org in der letzten Woche eine breite Welle der Empörung auslösten, reagierten die Vertreter der Bundesregierung zunächst überrascht. Doch NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung berichten nun, dass die Ministerien bereits frühzeitig über die sich anbahnende Klage informiert waren.
Infolge einer Anzeige von Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen hat Generalbundesanwalt Harald Range demnach das Ermittlungsverfahren am 13. Mai eingeleitet. Das Bundesjustizministerium ist dann zwei Wochen später informiert worden. Ebenso waren Beamte aus anderen Ministerien über die Entscheidung von Range im Bilde und zudem mit Einzelheiten des Falls vertraut. Es war also in Regierungskreisen bekannt, dass Range gegen Journalisten ermitteln will. Das ist insofern erstaunlich, weil unter anderem die Stellungnahme von Justizminister Heiko Maas am Freitag den Eindruck erweckte, dass er von der Klage überrascht wurde.
Doch laut den Informationen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung soll das Justizministerium die Bundesanwaltschaft sogar frühzeitig gewarnt haben. Das Verfahren sei falsch, so die Einschätzung des Ministeriums. Das arbeitet nun – wie von Maas angekündigt – an einer ausführlichen Expertise, um zu klären, ob es sich bei den von Netzpolitik.org veröffentlichten Dokumenten tatsächlich um Landesverrat gehandelt habe. Nach aktuellem Kenntnisstand wird die Antwort vermutlich Nein lauten.
Keiner will es gewesen sein
Derweil erklärt allerdings die Bundesanwaltschaft, dass die Warnung aus dem Justizministerium nicht so deutlich ausgefallen sei, wie vom Justizministerium dargestellt. Zumindest aus Sicht der Bundesanwaltschaft habe es sich nur um allgemeine Hinweise gehandelt, dass die Ermittlungen wegen Landesverrat problematisch sein könnten. Und die Schuld sieht man ohnehin beim Verfassungsschutz. Denn nach der Anzeige habe die Bundesanwaltschaft zunächst nur einen Prüfvorgang eingeleitet, wie es in einer Mitteilung der Behörde heißt. Diese war allerdings zwischenzeitlich nicht abrufbar, weil die Webseite der Bundesanwaltschaft gehackt wurde.
Das Ermittlungsverfahren kam hingegen erst ins Rollen, als der Verfassungsschutz im April ein Gutachten nachlegte. In diesem heißt es: Dass Netzpolitik.org die internen Dokumente publiziert hat, sei eine schwere Beeinträchtigung für die Arbeit des Verfassungsschutzes. Daher hätten die Journalisten Staatsgeheimnisse im Sinne von Paragraph 93 des Strafgesetzbuches veröffentlicht, was im Klartext heißt: Landesverrat. Und das ist eine Straftat, bei der sich die Ermittlungen nicht nur gegen den Whistleblower, sondern auch gegen die Journalisten richten.
Die Einschätzung von zahlreichen Juristen lautet allerdings: Solche Vorwürfe sind im Falle von den Netzpolitik.org-Betreibern und Journalisten Markus Beckedahl und Andre Meister nicht zu halten. Würde es sich bei den veröffentlichten Dokumenten um einen Verrat von Staatsgeheimnissen handeln, deren Veröffentlichung – im Sinne des Gesetzes – die Bundesrepublik benachteiligt und einen schwerer Nachteil für die äußere Sicherheit sind, müsste „man konsequenterweise jedweder Berichterstattung über (fragwürdige) Überwachungspläne von Geheimdiensten eine derartige Absicht unterstellen“, schreibt etwa der IT-Fachanwalt Thomas Stadler in einem Blog-Beitrag. Doch das stehe nicht im Einklang mit den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts sowie dem – berechtigten – öffentlichen Interesse, wenn etwa ein Geheimdienst die Internet-Überwachung ausbauen will.
Zumal es nicht nur Juristen sind, die Zweifel an der Klage äußern. Neben Justizminister Maas haben sich nun auch Innenminister Thomas de Maizière und sogar Kanzlerin Angela Merkel von Generalbundesanwalt Range distanziert – zumindest in abstrakter Form. Denn eine Regierungssprecherin erklärte lediglich, dass der Justizminister die volle Unterstützung der Kanzlerin habe.
Verfassungsschutz-Präsident Maaßen verteidigt derweil sein Vorgehen. Im Interview mit der Bild am Sonntag rechtfertigt er die Anzeige. „Um die weitere Arbeitsfähigkeit meines Hauses im Kampf gegen Extremismus und Terrorismus sicherzustellen, war es notwendig, gegen die Herausgabe von als vertraulich oder geheim eingestuften Dokumenten des Bundesverfassungsschutzes juristisch vorzugehen“, so Maaßen. Daher erfolgte im Frühjahr dieses Jahres auch die Anzeige gegen Unbekannt. Alles Weitere sei nun Sache der Justiz.
Ruhende Ermittlungen als juristisches Placebo?
Dass Range das Ermittlungsverfahren vorerst ruhen lassen will, um mittels eines Gutachtens zu klären, ob mit den veröffentlichten Dokumenten tatsächlich Staatsgeheimnisse verraten wurden, will Maaßen hingegen nicht kommentieren. Ohnehin ist noch unklar, welches Ziel der Generalbundesanwalt mit dieser Entscheidung verfolgt. Laut dem Anwalt Udo Vetter handelt es sich bei der Ankündigung nicht einmal um eine „Beruhigungspille“, sondern vielmehr um ein juristisches Placebo. Denn für die Beschuldigten habe sich zunächst nichts geändert, solange das Ergebnis des Gutachtens aussteht.
Die einzige Konsequenz ist, wenn Range von den „nach der Strafprozessordnung möglichen Exekutivmaßnahmen“ absieht: Es gebe zunächst wohl keine Hausdurchsuchungen und die Autoren werden nicht verhaftet. Dementsprechend ist es auch nachvollziehbar, wenn Markus Beckedahl gegenüber dem Stern erklärt, dass ihn die Aussage von Range nicht beruhigt. „Erst wenn wir es Schwarz auf Weiß haben, dass die Ermittlungen eingestellt sind, atmen wir durch“, so der Netzpolitik.org-Betreiber.
Einschüchtern lassen wollen sich die Journalisten allerdings nicht. Denn einer der zentralen Vorwürfe lautet, dass die Klage ohnehin nicht auf eine Verurteilung abziele. Vielmehr gehe es darum, weitere Whistleblower in den Reihen der Ministerien für die Zukunft abzuschrecken. Daher forderte auch der Netzpolitik.org-Autor Andre Meister anlässlich der Demonstration am Samstag, dass nicht nur die Ermittlungen gegen die Journalisten, sondern auch gegen die Quellen eingestellt werden müssten: „Wir brauchen mehr Whistleblower – und einen echten Whistleblowerschutz – statt neue Straftatbestände wie Datenhehlerei.“ Und letztlich müsste die Konsequenz aus den aktuellen Vorfällen sein: „Leak more documents!“