60 Jahre Lego-Brick: Ein Baustein trotzt der Digitalisierung
tl;dr: Vor 60 Jahren am 28. Januar 1958 reichte Lego um 13:58 Uhr beim dänischen Patentamt in Kopenhagen den Patentantrag auf ein Stecksystem mit Noppen und Röhren ein. Zur Jahrtausendwende durch den PC vermeintlich zum Untergang verdammt, ist analoges Bauen heute noch immer ein Erfolgsrezept. Aber Pflege ist notwendig.
Lego – Ein Phänomen unserer Zeit
Statistisch gesehen nennt jedes Kind auf dieser Welt rund 100 Steine des Steinehestellers aus Billund sein Eigen, auf jeden Menschen der Erde würden immerhin noch 64 Steine entfallen. Aber auch viele erwachsene Lego-Fans sind heute nach wie vor dem Baufieber verfallen oder bekommen zumindest wehmütige Augen, wenn sie an die guten alten Steine denken. Dass das Unternehmen um die Jahrtausendwende jedoch kurz vor dem Abgrund stand, kann man sich heute kaum noch vorstellen.
Lego findet immer noch überwiegend analog statt
Auch wenn Lego heute mit Sets wie die der Mindstorms-Serie (Test), dem im Jahr 2017 erschienene Boost (Test) oder dem nur für Bildungseinrichtungen verfügbaren WeDo 2.0 (Test) im digitalen Zeitalter angekommen ist, macht das Unternehmen den überwiegenden Teil seines Umsatzes nach wie vor mit altmodisch anmutenden Bauen. Geschüttelt wird der ruhende analoge Fels im sonst allzu schnellen digitalen Zeitalter allerdings durch Entscheidungen wie unter anderem die Abschaffung der Alternativmodelle (von der Creator-Reihe einmal abgesehen). Ein Schritt, der vor allem vielen AFOLs (Adult Fan Of Lego) so gar nicht schmeckte.
Anfänge reichen mehr als 80 Jahre zurück
Die Anfänge des dänischen Unternehmens gehen bis in die 30er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Damals begann der dänische Tischler Ole Kirk Kristiansen mit der Herstellung von Holzspielzeug, welches aufgrund der für die damaligen Verhältnisse extrem hohen Qualität immer mehr Abnehmer fand und das kleine Unternehmen wachsen ließ. Während heutzutage Werbeagenturen oftmals monatelang über aussagekräftige Firmennamen grübeln, ging Kristiansen bei der eigenen Namensfindung eher pragmatisch vor: Ein Wettbewerb in seiner kleinen Werkstatt im Jahre 1934, bei dem eine Flasche Wein als Gewinn winkte (die Kristiansen am Ende selbst gewann), wurde ausgelobt, und schon war der Name Lego, abgeleitet vom dänischen „Leg godt“ („Spiel gut“), geboren.
Kunststoff legte den Grundstein für das heutige Lego
Die Ära von Lego, wie Kinder und Erwachsene es heute kennen, begann aber erst 1947: Auf einer Spielwarenmesse in England entdeckte Kristiansen eine Kunststoff-Spritzgussmaschine, importierte diese nach Dänemark und begann neben Holzspielzeug auch Spielwaren aus Kunststoff herzustellen. Die Urform der heute bekannten Bausteine, damals noch ohne das einzigartige Röhrchen-Noppen-Design, wurden ab 1949 in Deutschland mit dem eher holperigen Namen „Automatische Verbindungssteine“ vertrieben und erst 1953 in „Lego Mauersteine“ umbenannt.
Oles Sohn, Godtfred Kirk Cristiansen (aufgrund eines Fehlers in seiner Geburtsurkunde mit „C“ geschrieben), kam 1954 der Gedanke, das Spielzeug mit einer „großen Idee“ und einem System auszustatten, welches alles zusammenhält. Das Ergebnis war „Lego System im Spiel“, welches 1955 mit 28 Bausätzen sowie acht Fahrzeugen startete und den Grundstein für den Themen-Gedanken von Lego legte.
Ein Patent verändert die Spielewelt nachhaltig
1958 meldete Kristiansen schließlich die heute bekannte Form des „Ur-Bricks“ mit 2 × 4 Noppen in Dänemark zum Patent an. Es folgten 32 weitere Länder, darunter am 24. Oktober 1961 die USA. Noch heute können Steine aus den Anfangstagen problemlos mit aktuellen Bricks zusammen verbaut werden – an dem System hat sich bis heute nichts geändert.
Dabei ist alleine der Urvater der Bausteine mit seinen 2 × 4 Noppen und drei Röhren vielseitiger als es ihm auf den ersten Blick anzusehen ist: Bereits zwei Steine können in 24 verschiedenen Kombinationen verbaut werden, die höchste bisher berechnete Anzahl von Möglichkeiten liegt bei sieben Steinen mit 85.747.377.755 Kombinationen. Eine exakte Berechnung mit acht und mehr Steinen ist bis heute noch nicht gelungen.
Heute gilt das Patent auf den Stein jedoch nicht mehr, obwohl Lego versucht hat, es weiter zu halten. Nach der Jahrtausendwende hatten aber weltweit zahlreiche Gerichte entschieden, dass es Lego nicht möglich sei, den Stein dauerhaft unter Schutz zu stellen, weil er ein funktionales Prinzip beschreibe. Das ursprünglich gültige Patent auf die technische Lösung war damit in den 70er Jahren ausgelaufen. Heute gibt es zahlreiche mal mehr, mal weniger hochwertige Alternativen am Markt.
Plötzlich „uncooles“ Spielprinzip
Anfang der Jahrtausendwende gelangte das Unternehmen aber nicht durch vergleichbare Konkurrenzprodukte in ungemütliche Fahrwasser, das zum ersten Mal zu Verlusten führte seit Lego 1978 „durchstartete“ und beinahe dessen Existenz gekostet hätte. Auch der Siegeszug von PC und Konsolen in Kinderzimmern kann nicht als Grund hergezogen werden, sondern reines Missmanagement. Die zum damaligen Zeitpunkt mehr aus Managern bestehende Konzernführung erklärte das bisherige Bauprinzip und damit auch den Stein Mitte der 90er Jahre als „überholt“. Infolgedessen begann der Konzern immer mehr Sets mit speziellen (oft auch größeren) Bauteilen zu produzieren. Kurz vor dem Kollaps bestand das Teile-Portfolio von Lego aus über 14.000 verschiedenen Einheiten. Die Idee, dass jeder Stein aus jedem Set mit anderen Steinen zu etwas neuem kombiniert werden kann, ging verloren.
Die neue Richtung vergraulte zudem die bisher sehr treue Stammkundschaft, ohne dass neue Kunden, die generell nicht gerne bauten, von den neuen Sets angesprochen wurden. Paal Smith-Meyer, Senior Director des Lego Future Lab, bringt es auf den Punkt: „Weil uns das nicht klar war und wir offengesagt zu arrogant gegenüber unseren Kunden waren, produzierten wir die falschen Produkte und lieferten die Produkte, die gefragt waren, nicht mehr“.
Diese Entwicklung gipfelte 2003 in einem Verlust von rund 190 Millionen Euro und der knapp bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit, obwohl Lego seit 1999 auch versuchte, mit der Entscheidung, erstmals Produkte im großen Umfang unter Lizenz zu vertreiben, dagegen zu steuern. Zum Start von Star Wars: Episode I – Die dunkle Bedrohung Ende 1999 gab es erstmals Produkte aus einer nicht von Lego erdachten Welt. Bis dahin brachen bei rund zwei Drittel der für Lego wichtigsten Produkte die Verkaufszahlen völlig weg.
Besinnung auf alte Stärken bringt Kehrtwende
Für den stellvertretender Geschäftsführer Mads Nipper ist es ein Vorteil gewesen, dass Lego niemand anderem die Schuld für die eigene Schräglage geben konnte. Somit setzte der Umschwung erst ein, als das Unternehmen wieder zurück in die Familienhände gelangte und Jørgen Vig Knudstorp als neuer CEO eingesetzt wurde. Dieser legte den Fokus zurück auf das frühere Kerngeschäft und damit auf die Seele des Unternehmens: Den Baustein und das Lego-System im Spiel. Infolgedessen wurde die Palette der verschiedenen Steine drastisch auf mittlerweile rund 3.700 verringert bei gleichzeitiger Erhöhung der Farbpalette auf aktuell über 60 Farben. Heute bestehen Lego-Sets zu rund 70 Prozent aus Standardteilen, was die Entwickler oftmals zu innovativen Problemlösungen zwingt.
Ausgebaut wurde aber auch das Lizenzgeschäft, nach Star Wars folgten Harry Potter oder die Superhelden-Reihe bestehend aus bekannten Marvell- und DC-Figuren und deren Filme. Auch wenn Händler besonders bei Star-Wars- und Bat-Man-Sets einen deutlichen Absatzrückgang angeben, soll Lego immer noch rund ein Drittel des Umsatzes aus diesen Modellen generieren.
Kunden-Feedback und Lizenzen als Retter
Aber auch die im Jahr 1998 als digitale Antwort auf die Digitalisierung vorgestellte Mindstorms-Serie brachte den Konzern wieder auf den Erfolgskurs, weil er lernte, anders mit Kunden umzugehen: Denn bereits kurz nach dem Verkaufsstart begannen findige Fans damit, das Roboter-System zu hacken und mit alternativer Software zu bespielen – rund 1.000 Entwickler versuchten sich bereits innerhalb der ersten drei Monate an dem neuen System.
Dies löste in der davon völlig überrumpelten Lego-Chefetage große Diskussionen bezüglich des Umgangs mit diesem Phänomen aus – schließlich ging es hier auch um Firmengeheimnisse, welche normalerweise akribisch geschützt werden. Lego stand vor der Wahl, aggressiv seine Innovationen zu schützen, oder die Entwicklung interessant zu finden. Der damalige Geschäftsführer und Enkel des Unternehmensgründers Kjeld Kirk Cristiansen entschied schließlich, sich weiter gegenüber Ideen, die nicht aus den eigenen Reihen stammten, zu öffnen.
Fans als Ideengeber
Diese Idee lebt heute in der im Jahr 2008 unter dem Namen „Cuusoo“ eingeführten und 2014 in „Ideas“ umbenannten Serie fort, bei der Baumeister Ihre Modelle über eine entsprechende Online-Plattform vorstellen können und welche beim Erreichen von 10.000 abgegebenen Stimmen dem Lego-Management zur Beurteilung vorgelegt werden. Das erste so veröffentlichte Set war „Lego Minecraft“, welches die benötigten Stimmen in weniger als 48 Stunden erhielt und mehrmals für den Zusammenbruch der Lego-Server sorgte.
Laut Tormod Askildsen, Leiter des Lego-Community-Entwicklungsteam, muss sich das Unternehmen darüber bewusst sein, dass 99,99 Prozent der intelligentesten Menschen weltweit nicht für Lego arbeiten. Daher sei man auf die Impulse aus der Gemeinschaft angewiesen.
Millionen von Teilen täglich
Mittlerweile stellt Lego minütlich mehr als 100.000 Bauteile her, was rechnerisch rund 13 Sets des bisher größten Lego-Modells, dem aktuellen Star Wars UCS Millennium Falcon (75192) mit 7.541 Teilen, entspricht. Mit 730 Millionen gefertigten Einheiten galt Lego im Jahr 2016 zudem als der größte Reifenhersteller der Welt.
Das Geheimnis der hohen Qualität sowie der damit verbundenen hohen Stabilität der einzelnen Steine liegt vor allem in den verwendeten Spritzgußformen begründet, welche eine Passgenauigkeit von 0,004 Millimetern besitzen – dies entspricht weniger als der Dicke eines menschlichen Haares.
Aus der kleinen Werkstatt zum weltgrößten Spielzeughersteller
Heute beschäftigt der Spielwarenkonzern, der nach der Patentierung 1958 gerade einmal 140 Mitarbeiter zählte, weltweit fast 17.000 Menschen und erwirtschaftete 2016 einen Umsatz von rund 5,1 Milliarden Euro bei einem Marktwert von rund 4 Milliarden US-Dollar und dabei als nach wie vor im Verhältnis kleines Unternehmen Branchenriesen wie Mattel oder Hasbro hinter sich lässt. Auch der Wirtschaftskrise trotzte das Unternehmen mit einem in den letzten 10 Jahren um rund 80 Prozent gestiegenen Umsatz – und das mit lediglich einer einzigen Spielzeugkategorie: dem überwiegend analogen Baukastensystem.
Der Erfolg zeigt Risse, die Kritik wächst
Im Jahr 2017 hat der Erfolg der letzten Jahre allerdings Risse gezeigt. Erstmals ist der Umsatz wieder gefallen, 1.400 Stellen wurden weltweit gestrichen. Kritiker sehen allerdings auch in diesem Fall ein hausgemachtes Problem: Zuletzt habe Lego sich immer mehr auf das Lizenz-Geschäft gestürzt. Klassische Welten, mit denen insbesondere kleinere Kinder auch in Zeiten globaler Franchise-Marken noch zu erreichen sind, wurden vernachlässigt: Polizei, Feuerwehr oder Zug kämen heute viel zu kurz. Und offensichtlich streng limitierte Modelle, die sich an ältere Kunden richten, aber kaum verfügbar sind, haben auch diesen Teil der Käuferschaft erzürnt. Damit läuft das Unternehmen Gefahr, bekannte Fehler zu wiederholen.
Dass Lego die Belange seiner Kundschaft ernst nimmt und weiterhin von dieser lernt, zeigte der Konzern erneut Anfang 2016: Lange Zeit wurde Lego dafür kritisiert, Kindern vorrangig eine heile Welt zu präsentieren und das Thema Behinderung außen vor zu lassen. Die in London ansässige Organisation „Toy Like Me“, welche sich weltweit gegen die Diskriminierung von Behinderten einsetzt, wollte Lego mit einer Petition dazu ermutigen, auch Behinderungen in ihren Modellen zu thematisieren. Bereits innerhalb kürzester Zeit fand das Unterfangen mehr als 20.000 Unterzeichner (zu denen auch der Verfasser dieses Artikels gehört) und brachte Lego dazu, im Juli 2016 erstmals eine Figur in einem Rollstuhl zu veröffentlichen. Für diese Aktion erhielt Lego weltweit großen Zuspruch: „Wir haben echte Tränen in den Augen“ teilte die Organisation damals in einer ersten Stellungnahme mit. Auch das Internationale Paralympische Komitee (IPC) wandte sich via Twitter an den Spielzeughersteller: „Das ist großartig, danke für die Förderung von Vielfalt!".
Dauerhafter Erfolg ist jedoch auch bei Lego nicht gesetzt. Das Unternehmen muss auch 60 Jahre nach dem Patentantrag hart daran arbeiten, das alte Spielprinzip zu aktualisieren, ohne dabei auf die ureigenen Tugenden zu verzichten. 20 Jahre nach der letzten Krise steht dabei allerdings fest: An der fehlenden Digitalisierung scheitert das Spielprinzip nicht.
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