Android Automotive OS im Test: Fazit
6/6Jahre nach der Vorstellung greift Google mit Android Automotive OS das Establishment an. Die Premiere im Polestar 2 lässt sich zum Großteil als gelungener Start bezeichnen, bleibt aber ein wenig hinter den Erwartungen zurück, die Android auf dem Smartphone hoch gesteckt hat. Auch wenn der Auftritt als Ganzes betrachtet gelungen ist, beherrscht AAOS letztlich nämlich noch nicht mehr als die eigenen Betriebssysteme der Autohersteller. Dass sich mit AAOS auf einen Schlag ein riesiges App-Ökosystem öffnet, das alle anderen Lösungen überflügelt, ist aktuell noch nicht der Fall. Das Fundament, das Google mit dem eigenen Konto und all den Diensten im Zentrum geschaffen hat, ist da, über das Erdgeschoss hinaus ist das System aber noch nicht gekommen. Das Fundament zeigt Stabilität, die später mal ein Hochhaus tragen könnte.
Die Integration von Google als Ökosystem betrachtet ist mit AAOS in den Grundzügen gut gelungen. Wer ein Google-Konto im Zentrum seiner Online-Person besitzt, bekommt das Wissen, das Google über diesen Anwender besitzt, mit einem Schlag ins Auto katapultiert. Präferenzen aus Google Maps, YouTube Music oder dem Google Assistant sind ohne weitere Personalisierungen sofort da, weil es sich um dasselbe Konto handelt. Bei den Betriebssystemen der Autohersteller funktioniert das nicht in diesem Tempo, sodass dort immer erst ein eigenes Konto aufgebaut werden muss und eine Parallelwelt entsteht, abgekoppelt von Smartphone und Co.
Die Lernkurve für AAOS fällt flach aus, viele Menüs zu entdecken und zu merken gibt es nicht. Etwas gewöhnungsbedürftig ist zu Beginn nur die Unterscheidung zwischen Homescreen und App-Drawer, wo nicht auf Anhieb klar ist, welche Apps wie positioniert für welche Veränderungen sorgen. Im Prinzip ist der Homescreen aber nur ein simplifizierter App-Drawer mit der jeweils ersten App aus jedem Quadranten.
Inhaltlich sind Google vor allem drei Bereiche gelungen: Google Maps, Google Assistant und Musik-Apps. Google Maps ist die Killer-App im Auto und die native Umsetzung stellt jedes Mal wieder unter Beweis, wie überlegen sie den Angeboten der Autohersteller oder teils auch Apple Maps und anderer Anbieter ist. Bei Apple Maps bahnt sich mit iOS 15 allerdings ein sehr großes Update mit deutlichen Verbesserungen an, wenngleich zu Beginn nicht in allen Regionen. Der Google Assistant wiederum hört aufs Wort und leistet sich wenige Fehltritte bei der Ausführung von Befehlen. Einschränkungen gibt es aber beim Funktionsumfang, denn viel am Fahrzeug steuern kann der Google Assistant noch nicht. Im Stand spielt der Google Assistant seine Vorteile weniger aus, während der Fahrt steht er aber für ein klares Plus ein Sicherheit, da nicht mehr ständig zum Bildschirm gegriffen werden muss. Bei den Musik-Apps sind mit YouTube Music, Spotify und Tidal bereits einige wichtige Vertreter dabei und Anwendungen für Podcasts und Hörbücher gibt es ebenso. Was derzeit noch fehlt, ist aber eindeutig Apple Music.
Gehörig ins Schleudern kommt Google allerdings bei allen Anwendungen rund um Messaging und Video. Es fehlt ein elementarer Teil der alltäglichen Kommunikation, der – besonders peinlich für Google – selbst unter Android Auto und Apple CarPlay zur Verfügung steht. Nicht mal die eigenen Messenger oder Dienste wie Gmail haben es auf AAOS geschafft. Weil Android Auto und CarPlay unter AAOS nicht genutzt werden können, steht dieser Weg nicht als Umleitung zur Auswahl. Weil zumindest Siri aber weiterhin lauscht, ließen sich im Test WhatsApp-Nachrichten immerhin noch über das Smartphone verschicken. Mit einem Android-Smartphone ginge das nicht, weil „Hey, Google“ dann immer den Assistant unter AAOS starten würde, der mit denselben Befehlen nichts anfangen kann.
Der nächste Kritikpunkt betrifft den Bereich Multimedia, genauer gesagt Videos. Dass Google es nicht geschafft hat, selbst das eigene YouTube mit einer nativen App ins Auto zu bringen, ist ein Armutszeugnis. Dabei besteht die Kritik keinesfalls darin, dass Clips, Filme und Serien nicht während der Fahrt geschaut werden können, was absolut nachvollziehbar und ohnehin nicht erlaubt ist, sondern darin, dass dies überhaupt nicht und vor allem nicht bei einem E-Auto möglich ist, das bei längeren Strecken irgendwann zwangsweise eine längere Pause einlegen muss, die auch mit Schnellladern weit über der eines Tankvorgangs eines Verbrenners liegt. Das wäre doch der perfekte Zeitpunkt gewesen, um mit YouTube, Netflix, Prime Video oder Disney+ ein wenig die Zeit beim Laden verfliegen zu lassen. Die eigene Video-App von Polestar, die hierzulande primär die Tagesschau wiedergibt, ist kein adäquater Ersatz. Letztlich zückt man doch das eigene Smartphone, um sich während der Ladepause zu beschäftigen.
Was deshalb bei AAOS nach einer Woche mit dem nordisch coolen Polestar 2 hängen bleibt, ist der Eindruck einer soliden Basis, die jetzt schleunigst erweitert werden muss. Dabei ist ComputerBase mit dem Test noch vergleichsweise spät dran, denn erste Kunden haben das Auto bereits im Sommer 2020 entgegengenommen. Genau genommen hat die Redaktion damit auch getestet, was sich innerhalb eines Jahres seit Verfügbarkeit alles verbessert hat. Und rein inhaltlich vom App-Angebot her fehlen weiterhin zwei große Säulen, sodass nüchtern betrachtet nicht viel Neues in die Plattform eingeflossen ist. Die Basics der Google-Dienste funktionieren bereits sehr gut, darunter Google Maps, der Google Assistant und was Google aus dem Benutzerkonto für die Personalisierung zieht. Auch Musik-Apps gibt es in ausreichender Menge für beinahe jeden größeren Dienst.
Noch sind es nur der Polestar 2 und ausgewählte Volvo-Modelle, die AAOS nutzen, doch mit der breiteren Verfügbarkeit, vor allem ab 2023 mit Ford, muss die Plattform mehr leisten. Denn ansonsten stellt man sich die Frage, warum man nicht einfach weiterhin Android Auto oder CarPlay benutzen soll. Beide Lösungen können derzeit in den entscheidenden Punkten mehr als Android Automotive OS. Da verzichtet man auch gerne auf die Tiefenintegration des Google Assistant, um per Sprache die Klimaanlage zu regeln.
ComputerBase wurde der Polestar 2 leihweise und unentgeltlich von Polestar für einen Testzeitraum von einer Woche zum Testen zur Verfügung gestellt. Die Überführung des Fahrzeugs wurde durch einen von Polestar beauftragten und bezahlten Dienstleister ausgeführt. Die Kosten für das Laden des Autos während des Testzeitraums wurden in voller Höhe von Polestar getragen, indem ein Ladeschlüssel für Plugsurfing zur Verfügung gestellt wurde. Eine Einflussnahme des Herstellers in jeglicher Form auf den Testbericht fand nicht statt, eine Verpflichtung zur Veröffentlichung bestand ebenfalls nicht. Es gab kein NDA oder Embargo.
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