Staupilot nach „Level 2+“ im Test: Freihändig durch die Verkehrshölle
Dieses Jahr soll automatisiertes Fahren nach Level 3 auf deutschen Straßen Realität werden, auch Wegsehen ist dann erlaubt. Wie es sich anfühlt, im Stau dauerhaft freihändig zu fahren, lässt sich mit „Level 2+“ schon länger in den USA erleben. Ein Erfahrungsbericht, der zeigt, dass aus gutem Grund noch aufgepasst werden muss.
Dieses Jahr werden in Deutschland voraussichtlich die ersten Fahrzeuge mit automatisiertem Fahren nach Level 3 auf den Markt kommen und Fahrern in Stausituationen bis 60 km/h das Fahren vollständig abnehmen. Gas, Bremse und Lenken übernimmt dann das Auto, die Hände können dauerhaft vom Lenkrad genommen werden und der Fahrer darf sich – im Gegensatz zu Level 2 – mit anderen Dingen beschäftigen. Explizit erlaubt sind dann auch Nebentätigkeiten wie E-Mail, Browser und sogar Filme. Der Fahrer muss lediglich sicherstellen, dass er spätestens 10 Sekunden nach Aufforderung durch das Kfz wieder die volle Kontrolle übernehmen kann – also konkret für den Fall, dass der Stau sich auflöst und das Tempo wieder über 60 km/h steigt.
Das ALKS (Automated Lane Keeping System) kann unter bestimmten Umständen auf Straßen aktiviert werden, deren Nutzung durch Fußgänger und Radfahrer verboten ist und die so konzipiert sind, dass die Fahrbahnen für die entgegengesetzten Richtungen baulich voneinander getrennt sind, sodass der Gegenverkehr die Fahrspur des Fahrzeugs nicht kreuzen kann. In der Originalfassung dieser Regelung wird die Fahrgeschwindigkeit zunächst auf 60 km/h bei Personenkraftwagen (Fahrzeuge der Klasse M1) begrenzt.
Die Übernahmeaufforderung ist so auszulösen, dass ausreichend Zeit für den sicheren Übergang in den manuellen Fahrmodus gewährleistet ist. Reagiert der Fahrzeugführer nicht auf eine Übernahmeaufforderung, indem er das System deaktiviert, ist frühestens binnen 10 Sekunden nach Beginn der Übernahmeaufforderung ein risikominimierendes Manöver einzuleiten.
UN-Regelung Nr. 157
Mercedes-Benz Drive Pilot verzögert sich
Mercedes-Benz will mit dem Drive Pilot der S-Klasse als erster Hersteller hierzulande ein solches System auf den Markt bringen. Ursprünglich für die zweite Jahreshälfte 2021 angekündigt, soll dieses Halbjahr die Markteinführung folgen. Im Online-Konfigurator des Autos ist die Sonderausstattung allerdings noch nicht verfügbar. UN-Regelung Nr. 157 regelt auf europäischer Ebene, welche Voraussetzungen ein Level-3-System erfüllen muss, und eine Systemgenehmigung des Kraftfahrt-Bundesamtes liegt Daimler ebenfalls bereits für den Drive Pilot vor. Derzeit arbeitet Mercedes aber noch auf den Abschluss der Zertifizierung hin, um in den nächsten Monaten die Freigabe durch die Behörden zu erhalten, sagte eine Unternehmenssprecherin im November 2021 gegenüber Golem.
Bislang ist alles noch Level 2
Die bislang in Deutschland angebotenen Assistenzsysteme unterstützten den Fahrer (nicht nur) in Staus ebenfalls weitgehend beim Fahren, sodass vor allem auf der Autobahn oftmals nur noch mitgelenkt werden muss. Doch der entscheidende Unterschied zu den kommenden Level-3-Systemen besteht in den Händen am Lenkrad und in der Pflicht, das Verkehrsgeschehen dauerhaft im Blick zu behalten („eyes on“).
Level 2+ kann etwas mehr
Zwischen Level 2 und Level 3 gibt es allerdings Spielraum für Zwischenlösungen, die einen Teilbereich von Level 3 vorwegnehmen, aber gleichzeitig gewisse Bedingungen des Level 2 voraussetzen. „Level 2+“, also ein umfangreicheres und in mehr Situationen verfügbares Level 2, kann man eine solche Lösung nennen, wenngleich es dafür keinen offiziellen SAE-Standard gibt. In den USA gibt es bereits mehrere Anbieter wie Cadillac (Super Cruise) und Tesla (FSD Beta), die „autonomes Fahren“ auf Highways und teils auch auf Nebenstraßen nach erweitertem Level 2 anbieten.
Dabei kann das Fahren zwar vollständig an das Auto abgegeben werden, die Aufmerksamkeit des Fahrers mit sofortiger Übernahmefähigkeit wird aber weiterhin verlangt. Diese Systeme sind also „feet off“ und „hands off“, aber noch nicht „eyes off“, weil im Gegensatz zum Level 3 keine Nebentätigkeiten möglich sind.
BMW Driving Assistant Professional | |||
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Modus 1 Distance Control |
Modus 2 Assisted Driving |
Modus 3* Assisted Driving Plus |
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Gas/Bremse | Wird übernommen | ||
Lenkung | Nein | Unterstützt innerhalb der Spur | Übernimmt innerhalb der Spur |
Hände | Müssen am Lenkrad sein | Ohne Hände am Lenkrad | |
Tempo | Bis 130 mph (210 km/h) | Bis 40 mph (64 km/h) auf Highways | |
* In den USA verfügbar |
Testfahrt unter US-Konditionen
In Deutschland gibt es noch keine Möglichkeit, einem frei verfügbaren Serienfahrzeug dauerhaft das Lenken zu überlassen, ohne dass Warnmeldungen und Hinweistöne erscheinen respektive erklingen. In den Vereinigten Staaten sieht das anders aus, sodass die Tage vor der CES 2022 auch dafür genutzt wurden, mit einem entsprechend ausgestatteten Fahrzeug die kalifornischen Highways zu befahren, um herauszufinden, in welchen Bereichen das Fahren ohne Hände am Lenkrad Vor- oder Nachteile im Alltag mit sich bringt.
BMW Assisted Driving Plus
Das Testfahrzeug war ein BMW 330e mit Driving Assistant Professional. Dieses größte Paket an Fahrerassistenzsystemen bietet BMW auch in Deutschland an. In den USA wird es aber mit einem dritten Modus versehen, der sich Assisted Driving Plus nennt, auf Highways in Stausituationen bis 40 mph (64 km/h) angeboten wird und das Fahren dauerhaft ohne Hände am Lenkrad erlaubt. Dieser dritte Modus ergänzt die zwei auch hierzulande erhältlichen Modi, einmal für den aktiven Abstandstempomaten und auf zweiter Stufe mit aktiver Spurführung, also Lenkunterstützung innerhalb der eigenen Spur – jeweils auch oberhalb von Geschwindigkeiten von 40 mph. In Deutschland steht der Driving Assistant Professional ohne das Plus-Feature von 30 bis 210 km/h zur Verfügung. Das System setzt aber auch im Stau die Hände am Lenkrad voraus.
Ein dritter Modus für den Driving Assistant Professional
Für den US-Markt kann BMW das System aufgrund entsprechender Gesetzeslage mit erweitertem Umfang anbieten. Befindet man sich in Modus 2 und fällt die Geschwindigkeit auf einem Highway unter 40 mph, bietet das Auto den Wechsel zu Assisted Driving Plus an. Die Bestätigung durch den Fahrer erfolgt über die Modus-Taste auf dem linken Tastenfeld des Lenkrads. Das Fahrzeug bestätigt den Wechsel in Modus 3 mit einem Hinweiston, einer grünen Beleuchtung des Lenkrads und einer Anzeige für „Assist Plus“ im Fahrer-Display, die neben den Lenkrad- und Tempomat-Piktogrammen erscheint, die die aktiven Assistenzsysteme der Modi 1 und 2 bestätigen.
Kameras überwachen die Aufmerksamkeit des Fahrers
Sobald Assisted Driving Plus aktiv ist, können die Hände dauerhaft vom Lenkrad genommen werden. Die sonst nach wenigen Sekunden üblichen Warnungen, doch bitte wieder ans Lenkrad zu greifen, erscheinen nicht mehr. Das Auto übernimmt in dieser Situation alle Fahraufgaben, verlangt vom Fahrer aber, dass er den Blick nach vorne auf den Verkehr richtet. Kameras im Fahrer-Display analysieren die Blickrichtung und geben Fehlverhalten nur wenig Spielraum. Blickt man einige Sekunden nach unten oder zur Seite, wird ein Hinweis ausgegeben, dass man aufmerksam bleiben („Stay attentive“) soll. Bei Missachtung steht das System nicht mehr zur Verfügung und es muss zunächst manuell gefahren werden, bevor das Assistenzsystem erneut aktiviert werden kann.
Testfahrt durch die Verkehrshölle Bay Area
Die freien Tage vor der Messe wurden zwar eher im ländlichen Kalifornien verbracht, für den Stautest wurde aber bewusst von Osten kommend die Bay Area angefahren. Denn neben der Heimat jeder Silicon-Valley-Größe ist die Region vor allem für eines bekannt: viel Verkehr. Klassische Stoßzeiten gibt es schon gar nicht mehr, denn Pendler kommen aus allen umliegenden Regionen und verstopfen schon früh morgens bis in den Vormittag und dann bereits wieder ab dem späten Mittag die Straßen. Die Sequenzen im Video wurden an einem Dienstag zwischen 12 und 15 Uhr aufgenommen und zeigen Fahrten auf der Interstate 580 rund um Hayward, San Leandro und Oakland.