Mercedes-Benz Drive Pilot im Test: Level 3 erlaubt Filme und Spiele beim Fahren
Der Mercedes-Benz Drive Pilot ist fertig und kann ab 17. Mai für S-Klasse und EQS bestellt werden. Das Level-3-System ermöglicht im Stau das hochautomatisierte Fahren, sodass sich der Fahrer ganz legal Filmen, Spielen oder dem Browser zuwenden darf. ComputerBase war auf der A100 auf Stausuche und mit dem Drive Pilot unterwegs.
Wann kann man schon mal von sich selbst behaupten, völlig beabsichtigt in einen Stau kommen zu wollen? Was normalerweise tunlichst vermieden wird, war bei der ersten Ausfahrt mit dem finalen Drive Pilot in einem Serienfahrzeug von Mercedes-Benz exakt das Wunschszenario. Das Ziel: die Berliner A100, die auch abseits der Stoßzeiten ein Garant für stockenden Verkehr ist. Auf diese Weise konnte das neue Level-3-System, das für S-Klasse und EQS angeboten wird, erstmals im realen Verkehr getestet werden.
Vorstellung des Drive Pilot im Sommer 2020
Ein kurzer Rückblick: Der Drive Pilot ist das weltweit erste Level-3-System mit internationaler Zertifizierung, das in Stausituationen bis 60 km/h vollständig das Fahren übernehmen kann, sodass sich der Fahrer anderen Aufgaben zuwenden kann und dabei nicht mehr auf den Verkehr achten muss. Das ist der entscheidende Unterschied zu bisherigen Assistenzsystemen, die noch Level 2 (Test) oder Level 2+ (Test) entsprechen. Bei letztgenannten Lösungen, die vor allem in den USA angeboten werden, dürfen zwar ebenfalls dauerhaft die Hände vom Lenkrad genommen werden, Fahraufgabe und Verantwortung liegen aber weiterhin beim Fahrer, der das Verkehrsgeschehen stets im Blick behalten und sofort wieder die Kontrolle übernehmen können muss.
Zulassung durch das KBA im Dezember 2021
Den Drive Pilot hatte Mercedes-Benz im Sommer 2020 für die aktuelle S-Klasse angekündigt und für die zweite Jahreshälfte 2021 in Aussicht gestellt. Mitte Dezember des letzten Jahres erfolgte durch das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) die Systemgenehmigung auf Basis der technischen Zulassungsvorschrift UN-R157 (PDF), um die Level-3-Lösung für hochautomatisiertes Fahren international anbieten zu können.
Drive Pilot kostet einzeln 5.950 Euro
Heute kündigt Mercedes-Benz die tatsächliche Markteinführung des Systems an, dessen Verkaufsfreigabe ab dem 17. Mai erfolgen wird. Der Drive Pilot wird wie ursprünglich angekündigt für die S-Klasse inklusive der Maybach-Modelle, aber auch für den elektrischen EQS angeboten – in beiden Fällen als Sonderausstattung unabhängig von der gewählten Motorisierung. In der S-Klasse liegt der Aufpreis bei 5.950 Euro (brutto). Im EQS sind es grundsätzlich zwar ebenfalls 5.950 Euro, doch muss hier zunächst noch das „Fahrassistenz-Paket Plus“ für 2.891,70 Euro erworben werden, das bei der S-Klasse serienmäßig verbaut ist. Damit ist der Drive Pilot jeweils das mit Abstand teuerste einzeln verfügbare Assistenzsystem, wenn zusammengefasste Ausstattungspakete, die in den fünfstelligen Bereich gehen können, außer Acht gelassen werden.
S-Klasse (inkl. Maybach) | EQS | |
---|---|---|
Fahrassistenz-Paket Plus (Voraussetzung für Drive Pilot) |
serienmäßig | 2.891,70 Euro |
Drive Pilot | 5.950,00 Euro | |
Gesamtkosten | 5.950,00 Euro | 8.841,70 Euro |
Drive Pilot gibt es nicht im Abo
In der aktuellen Umsetzung bietet Mercedes-Benz den Drive Pilot ausschließlich als einmaligen Kauf mit dauerhafter Nutzung an. Geschäftsmodelle mit bereits ab Werk verbauter, erweiterter Hardware und anschließend (punktuell) freischaltbarer Software oder Abomodelle wie bei VW waren heute kein Thema und wurden auch für die Zukunft erst einmal nicht in Aussicht gestellt. Nach der Verkaufsfreigabe in Deutschland will Mercedes-Benz für den Drive Pilot bis Ende des Jahres die behördliche Serienzulassung für Kalifornien und Nevada erhalten, sofern es die rechtliche Lage dort zulässt.
Neue und erweiterte Sensorik für den Drive Pilot
Der Drive Pilot ist weitaus mehr als eine erweiterte Software für die bestehende Hardware der Distronic, die noch nach Level 2 arbeitet. Mit den im Fahrzeug verbauten Kameras und Ultraschallsensoren und dem Radar gibt es bei den genutzten Sensoren zwar durchaus Überschneidungen zwischen Distronic und Drive Pilot, speziell für das Level-3-System sind Sensorik und Rechenleistung aber erweitert worden. Im Kühlergrill des Fahrzeugs findet sich erstmals ein Lidar-Sensor, oben links in der Heckscheibe sitzt eine neue Kamera für den Blick nach hinten und im hinteren Bereich des Dachs ist ein größerer GPS-Hubbel für eine zentimetergenaue Positionierung erkennbar. Zudem wurde die Stereo-Kamera in der Windschutzscheibe aufgewertet. Das Fahrzeug verfügt obendrein über Nässesensoren. Mikrofone sollen derweil Sondersignale von Einsatzfahrzeugen erkennen und eine Kamera überwacht den Fahrer. Auch die bereits bekannte weitere Sensorik wurde optimiert.
Dr. Martin Hart, Director Assistance Systems, betonte zur Präsentation des Drive Pilot die Wichtigkeit der Verwendung verschiedener Sensoren und deren Zusammenspiel. Radar, Lidar und Kameras hätten jeweils ihre Vor- und Nachteile und könnten sich gegenseitig ergänzen. Eine Umsetzung allein mit Kameras sei nicht zielführend.
Redundante Auslegung der Systeme
Darüber hinaus sind in Fahrzeugen mit Drive Pilot mehrere Systeme redundant ausgelegt, um einfache wie schwerwiegendere Störungen sicher zu beherrschen. Die redundante Architektur umfasst das Bremssystem, die Lenkung, die Stromversorgung sowie Teile der Sensorik wie etwa für die Umfelderkennung und Fahrdynamikberechnung. Die Batterie, der Lenkmotor und die Raddrehzahlsensorik bis hin zu den unterschiedlichsten Algorithmen, die das System für die Datenberechnung nutzt, sind ebenfalls doppelt ausgelegt. Wie Mercedes-Benz erklärt, seien auch Teile der Sensorik funktional redundant, da sie sich durch ihre unterschiedlichen physikalischen Konzepte (siehe Bild 2) ergänzen und so stets eine sichere Übergabe ermöglicht werden soll.
Hochauflösende Karten mit zentimetergenauer Auflösung
Neben der erweiterten Sensorik und Redundanz sind hochauflösende Kartendaten eine weitere Voraussetzung für das hochautomatisierte Fahren. Mercedes-Benz setzt dabei auf die gemeinsam mit Audi und BMW erworbenen HD-Karten von Here. Sie weisen eine zentimetergenaue statt bislang nur metergenaue Auflösung aller Straßendetails auf und werden dem Auto über eine Backend-Anbindung laufend per Mobilfunk zugespielt. Zur ursprünglichen Ankündigung hatte Mercedes-Benz erklärt, dass die HD-Karten mit derart vielen Informationen gespickt seien, dass sie zu groß für die dauerhafte Speicherung im Fahrzeug seien. Stattdessen werde auf einen laufend über die Backend-Anbindung erneuerten Datenbestand der nächsten Kilometer gesetzt und die alten Daten wieder verworfen. Heute erklärt der Hersteller jedoch, dass jedes Fahrzeug ein Abbild der Karteninformationen an Bord sichere, diese ständig mit den Backend-Daten vergleiche und gegebenenfalls den lokalen Datensatz aktualisiere. Das soll eine stabile und exakte Positionierung durch eine von Faktoren wie Schatten oder verschmutzten Sensoren unabhängige Darstellung der Umgebung ermöglichen.
Testfahrten werden fortgesetzt
Mit der Verkaufsfreigabe des Drive Pilot ab dem 17. Mai in Deutschland sind die Testfahrten für Mercedes-Benz allerdings nicht abgeschlossen. Diese wird der Hersteller auch weiterhin betreiben, um veränderte Gegebenheiten auf freigegebenen Strecken zu erfassen. Bislang hat das Unternehmen für seine Level-2- und jetzt auch Level-3-Systeme alle Autobahnkilometer Deutschlands und dabei auch jede Spur einzeln abgefahren. Die eigene Flotte an Messfahrzeugen ist neben der standardmäßigen Sensorik mit zehn zusätzlichen Kameras ausgerüstet und pro Fahrzeug fallen für die Messpunkte 2,87 GB an Daten pro Minute an. Bei einer sogenannten Triggermesung, bei der punktuell die gesamte Sensorik aufgezeichnet wird, sind es 33,72 GB pro Minute.
Auf der nächsten Seite geht der Test auf freigegebene Strecken, Fähigkeiten, Aktivierung, Deaktivierung und den generellen Ablauf der Nutzung des Drive Pilot ein.