Mercedes-Benz Drive Pilot im Test: Das hochautomatisierte Fahren mit Drive Pilot

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Nicolas La Rocco
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Unterwegs auf der Berliner A100

Und wie fährt sich der Drive Pilot in der Praxis? Zunächst einmal ist es gar nicht so einfach, die Praxis herbeizuführen, denn ohne Stau und passende weitere Kriterien lässt sich das System nicht aktivieren. Was man ansonsten tunlichst vermeiden will, nämlich im Stau zu stecken, ist plötzlich eine Anforderung und gewünscht, um den Drive Pilot testen zu können. Auf der Berliner A100 von der Anschlussstelle Beusselstraße bis in den Süden auf einen Parkplatz in Nähe des Innsbrucker Platzes und wieder zurück ließ sich der Drive Pilot glücklicherweise obgleich des höchstens zähfließenden Verkehrs zur Mittagszeit mehrfach und ein paar Mal auch über längere Zeit aktivieren. Zum Ende der Testfahrten musste allerdings ein vorausfahrendes Fahrzeug etwas nachhelfen.

Weil die A100 aber keine klassische Autobahn, sondern eher ein Stadtring um den Berliner Westen ist, sind die ersten Praxiskilometer noch nicht mit einer Langstreckenfahrt vergleichbar, auf der man wirklich in einem klassischen Stau auf einer regulären Autobahn feststeckt. Die A100 überqueren immer wieder andere Straßen, die kumuliert als Tunnel in den Karten hinterlegt sind. Außerdem gibt es viele (Überbleibsel von) Baustellen, deren Baken und noch nicht entfernte gelbe Fahrbahnmarkierungen eine Aktivierung des Drive Pilot verhindern. Mit etwas Glück wie am letzten Dienstag kann man das Assistenzsystem allerdings auch auf dieser Strecke testen.

Drive Pilot verlangt Überwindung mentaler Hürde

Das hochautomatisierte Fahren mit Drive Pilot verlangt dem Fahrer zu Beginn vor allem ein Umdenken im Kopf ab. Es ist gar nicht so trivial, einfach nicht mehr auf den Verkehr zu achten und sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Was bislang nicht erlaubt war, ist zum einen plötzlich legal und zum anderen verlangt es dem Körper psychologisch doch eine gewisse Portion Mut ab, aktiv nicht mehr das Verkehrsgeschehen zu überwachen, praktisch abzuschalten und anderen Dingen die Aufmerksamkeit zu widmen. Es liegt eben nicht in der Natur des Menschen, eine bislang Aufmerksamkeit verlangende Situation bewusst zu missachten. Analogien zum frühen Fahren mit Level-2-Assistenzsystemen kommen auf, als aktive Tempomaten und beim Lenken unterstützende Systeme brandneu waren und man der ganzen Sache zumindest zu Beginn noch nicht blindlings vertrauen wollte und daher der Fuß stets über dem Bremspedal schwebte. Erst im Laufe der Zeit und mit zunehmender Erfahrung am Steuer kam Vertrauen für diese Systeme auf, die heutzutage jedoch bequemes Reisen über hunderte Kilometer Autobahn ermöglichen, ohne dabei Gas oder Bremse noch aktiv betätigen zu müssen.

Der Drive Pilot berechnet bis zu 400 Trajektorien in Echtzeit
Der Drive Pilot berechnet bis zu 400 Trajektorien in Echtzeit (Bild: Mercedes-Benz)

Level 3 erlaubt Spiele, Filme und Apps

Ähnlich verhält es sich beim Drive Pilot nach Level 3, wobei sich der Schritt, höchstens noch mit dem peripheren Sichtfeld am Verkehr teilzunehmen, noch größer als die Einführung von Level-2-Systemen anfühlt. Während der Fahrt berechnet der Drive Pilot fortlaufend bis zu 400 mögliche Trajektorien in Echtzeit, also im Millisekundenbereich, wie Mercedes-Benz erklärte, und wählt dabei stets den angemessenen Pfad. Diesen Entscheidungen des Assistenzsystems gilt es bei der Nutzung zu vertrauen, denn ansonsten kommt es nicht zum versprochenen Komfortgewinn im Individualverkehr. Wie wird das wohl erst, wenn man bei Level 4 dann auch ein Nickerchen einlegen darf? So weit geht Level 3 noch nicht, darüber muss man sich stets im Klaren sein. Aber einer virtuellen Partie Air-Hockey zwischen Fahrer und Beifahrer auf dem zentralen MBUX-Bildschirm, einer Runde im Tetris-Klon von Mercedes-Benz oder sogar Filmen und Serien, sofern sie auf dem MBUX-Speicher oder einem USB-Stick vorliegen oder aber ein TV-Tuner an Bord ist, steht mit Drive Pilot fortan ganz legal nichts im Weg.

Der Drive Pilot funktioniert

Aus persönlicher Erfahrung in einer S-Klasse mit Drive Pilot ist die mentale Hürde durchaus zu meistern und dem System kann vertraut werden. Wenn der Drive Pilot aktiv ist, was auf der diffizilen A100 mit am Dienstag zum Zeitpunkt des Tests nicht ganz passendem Verkehrsaufkommen nicht einfach umzusetzen war, dann funktioniert er wie vom Hersteller im Rahmen der Systemgrenzen beworben und ohne böse Überraschungen. Das ist mit die bedeutendste Erkenntnis, dass es eben nicht zu unvorhersehbaren Abbrüchen mitten im Betrieb kam. Erst dieser Punkt erlaubt es, nicht mehr andauernd an das Umfeld zu denken und den Fokus auf andere Dinge zu legen.

Ablenkung, aber bitte nicht übertreiben

Dass der Fahrer den Bogen beim Grad der Ablenkung nicht überspannt, dafür sorgt die Technik im Fahrzeug. Der Drive Pilot ist so ausgelegt, dass der Fahrer nach wie vor im Rahmen einer Frist übernahmebereit sein muss. Das bereits erwähnte Schlafen ist mit dem Assistenzsystem noch nicht möglich. Mercedes-Benz geht noch einen Schritt weiter und schiebt übermäßigen Ablenkungen mit technischen Raffinessen einen Riegel vor. Die im Fahrer-Display verbauten Kameras überprüfen zum Beispiel, ob sich der Fahrer umdreht und sich während der Nutzung des Drive Pilot mit den Passagieren auf den Rücksitzen beschäftigt. Eine Runde Mau-Mau zwischen Eltern und Kindern auf der Mittelkonsole ist damit nicht möglich. Das System überwacht, dass der Fahrer die normale Ausrichtung der Sitzposition nach vorne grundsätzlich beibehält – Weggucken ist aber gestattet. Apropos Sitzposition: Auch die Position des Sitzes fließt in die Verfügbarkeit des Drive Pilot ein. Wird dieser zum Beispiel für einen ungewöhnlich langen Zeitraum (1,5 s) nach hinten verstellt, leitet das System davon ab, dass die Pedalerie nicht mehr erreicht werden kann, und verweigert den Dienst. Ein Austricksen wird unterbunden, indem mehrere einzelne Sitzverstellungen kumuliert werden.

Infotainment muss mit Assistenzsystemen wachsen

Dass sich jetzt grundsätzlich mit anderen Dingen als dem Fahren beschäftigt werden darf, verlangt von Mercedes-Benz, dass demnächst gewisse Entwicklungen im Bereich des Infotainmentsystems passieren müssen, damit für den Fahrer das MBUX und nicht das Smartphone zum Bildschirm der Wahl wird. Kleinere Casual-Games wie die gezeigten Apps sind ein erster Schritt in diese Richtung, eigentlich will man aber die beliebtesten Apps von Android und iOS auf dem MBUX sehen. Dass man jetzt theoretisch Filme und Serien gucken darf, ist zwar alles schön und gut, aber wo sind Disney+, Netflix, Prime Video und YouTube fürs Auto? Diese und andere Apps aus Bereichen wie Social Media und Produktivität fehlen nach wie vor in den mit immer mehr und größeren Bildschirmen bestückten Autos. Für das hochautomatisierte Fahren (Level 3) und später das autonome Fahren (Level 4) muss Mercedes-Benz mehr liefern. Dass man beim Hersteller über die Kooperation mit Faurecia-Aptoide künftig einen App-Store, der nicht von Amazon, Apple oder Google stammt, im Auto haben wird, zeigt, wohin die Reise mit MBUX und künftigen Lösungen wie dem MB.OS gehen wird.

Mercedes-Benz kann Visualisierung

Sich mit anderen Dingen als dem Fahren zu beschäftigen, ist eine Option, aber selbstverständlich kein Muss beim Drive Pilot. Das Assistenzsystem bietet lediglich die Option, die „hinzugewonnene Zeit“ anderweitig zu nutzen. Interessant ist beim Fahren mit Drive Pilot nämlich auch die Visualisierung des Assistenzsystems im Fahrer-Display mit 3D-Darstellung und auf dem AR-gestützten Head-up-Display – sofern diese Sonderausstattung gewählt wurde. Für den EQS bietet Mercedes-Benz zum Beispiel nach wie vor nur ein 2D-Fahrer-Display an, während in der S-Klasse die 3D-Version für 1.416,10 Euro bestellt werden kann. Im Gegenzug fällt das AR-Head-up-Display beim EQS mit 2.380 Euro im Vergleich zur S-Klasse mit 3.796,10 Euro günstiger aus.

Fahren auf dem türkisfarbenen Teppich

Die Farbe Türkis, die Mercedes-Benz für den aktiven Drive Pilot am Lenkrad verwendet, kommt auch auf dem Fahrer- und AR-Head-up-Display zum Einsatz. Dort aber jeweils, um einen „Teppich“ vor dem eigenen Fahrzeug bis zum vorausfahrenden Auto auszurollen, der sich mit dem Abstand zu diesem Wagen verlängert oder verringert und den aktiven Zustand des Systems signalisiert. Auch bei diesem virtuellen Teppich kommen wieder Signalfarben wie Rot zum Einsatz, sollte das System nicht mehr zur Verfügung stehen. Das vorausfahrende Fahrzeug, das als ein Kriterium für die Verfügbarkeit des Drive Pilot genutzt wird, wird dabei mit einem türkisfarbenen Kreis eingerahmt und mit einem „A“ markiert, das auch bei den Piktogrammen auf den neuen Tasten des Lenkrads verwendet wird. Das Wechseln dieses Referenzpunktes auf eine andere Spur wird dabei ebenso angezeigt wie das Einscheren eines neuen Autos respektive Referenzpunktes, auf das dann das „A“ im Display übertragen wird.

Sehen, was das Auto sieht

Die Anzeigequalität sowohl im Fahrer- als auch im Head-up-Display ist im Allgemeinen ein großer Pluspunkt für Mercedes-Benz, egal ob S-Klasse oder EQS. Die Anzeigen sind klar und deutlich zu verstehen, wirken nicht überfrachtet und überzeugen mit einer hohen Auflösung, einer grafisch hohen Qualität und einer scharfen Darstellung. Als Fahrer ist man stets im Bilde darüber, was die Assistenzsysteme gerade machen und was das Auto um einen herum alles erkannt hat. Das Verhalten des Fahrzeugs lässt sich damit in den meisten Situationen sehr gut nachvollziehen.

Die rechtlichen und ethischen Fragen

Neben den rein funktionalen Aspekten des Drive Pilot gibt es rechtliche und ethische. Oftmals in den Raum geworfene Fragen sind zum Beispiel, ob fortan Mercedes-Benz bei Unfällen in die Haft genommen werden kann oder ob das Auto bei einem Ausweichmanöver, das unvermeidlich Personenschaden zur Folge haben wird, zwischen Kleinkind und Greis unterscheiden muss, um ein junges Leben dem älteren vorzuziehen. Die Wahl des weniger schlimmen Übels stellt sich auf letztgenannte fiktive Situation bezogen nicht beim Drive Pilot, zumindest sollte sie es auf der Autobahn nicht. Um aber dennoch zu einem gewissen Grad auf einen Teilaspekt dieser Frage einzugehen, muss klargestellt werden, dass ein Mensch für das Auto grundsätzlich erst einmal nur als solcher und völlig wertfrei eingestuft wird. Wie Mercedes-Benz erklärt, sei es bei der Fußgängererkennung die ethische Anforderung des Herstellers, dass die Erkennung diskriminierungsfrei ablaufe. Das heißt, Mercedes-Benz will mit den verschiedenen Sensoren des Fahrzeugs, die permanent die Straße und den Straßenrand überwachen, Menschen immer korrekt erkennen, unabhängig von Kleidung, Körpergröße, Körperhaltung oder anderen Merkmalen. Das Unternehmen wolle dafür sorgen, dass neue Technologien stets rechtssicher auf die Straße kommen. Im Entwicklungsprozess des Drive Pilot hätten deswegen Ingenieure, Juristen, Compliance-Manager, Datenschützer und Experten für Ethik fachübergreifend als Team zusammengearbeitet.

Mercedes-Benz ist nicht automatisch Schuld an Unfällen

Die rechtlichen Fragen bei Nutzung des Drive Pilot lassen sich nicht mit einer per se gültigen Antwort erklären. „Es kommt darauf an“ trifft es am besten, denn nur die Nutzung des Drive Pilot entbindet den Fahrer nicht automatisch jedweder Verantwortung. Nur weil der Drive Pilot aktiv war, ist nicht automatisch Mercedes-Benz an jedem Unfall Schuld, der im Rahmen der Nutzung des Systems passiert ist. Das Haftungsmodell ist mit Fahrer, Halter und Hersteller im Grunde das gleiche wie bei bisherigen Fahrzeugen mit Level-2-Assistenzsystemen. Und ja, sollte im Nachhinein festgestellt werden, dass eine Fehlfunktion des Drive Pilot die Ursache eines Unfalls war, dann kann durchaus der Hersteller haften. Die Schuld verlagert sich aber nicht einfach so und bei jeder Nutzung des Drive Pilot auf Mercedes-Benz. Im Detail ergeben sich durch Systeme wie den Drive Pilot Anforderungen an das Fahrzeug und Pflichten für den Fahrer: Das Fahrzeug muss im hochautomatisierten Modus die Fahraufgabe sicher bewältigen und alle an die Fahrzeugführung gerichteten Verkehrsvorschriften einhalten. Der Fahrer wiederum hat weiterhin Pflichten im öffentlichen Straßenverkehr, insbesondere die Einhaltung der sonstigen Verkehrsvorschriften. Dazu muss er übernahmebereit bleiben und sich bereithalten, bei Aufforderung durch den Drive Pilot oder aufgrund offensichtlicher Umstände die Steuerung wieder zu übernehmen.

Der Drive Pilot hat keine Black Box

Eine „Black Box“, also ein Datenschreiber fürs Auto statt Flugzeug, gibt es beim Drive Pilot übrigens nicht im klassischen Sinne. Protokolliert wird lediglich, wann und wo der Drive Pilot aktiviert wurde, aber nicht die eigentliche Fahrt damit und auch keine Aufzeichnung der von den Sensoren (etwa Kameras) gelieferten Daten.

Fazit

Chapeau! Mercedes-Benz hat es tatsächlich geschafft, den Drive Pilot innerhalb von zwei Jahren nach der Ankündigung als erstes Level-3-System zur Serienreife zu entwickeln und überzeugend in S-Klasse und EQS zu integrieren. Funktional betrachtet hält das System genau das, was es verspricht, ohne dass es dabei im Rahmen der Testfahrten in Berlin zu bösen Überraschungen kam. Trickreich war eher die Einhaltung der ODD, was auf anderen Autobahnen als dem Stadtring aber wieder anders ausfallen könnte. Die technische Umsetzung überzeugt, vor allem in Bereichen wie Visualisierung und Kommunikation mit dem Fahrer. Das Verhalten des Drive Pilot ist nachvollziehbar, was ein wichtiger Punkt ist, um gegenüber dem System das notwendige Vertrauen aufzubauen, das Voraussetzung für die Beschäftigung mit anderen Dingen im Auto ist. Nur wenn das funktioniert, was beim Drive Pilot der Fall ist, kommt es zum versprochenen Komfortgewinn beim Fahren statt zur unüberwindbaren mentalen Hürde im Kopf. Trotz der guten Umsetzung geht der Drive Pilot zu Beginn mit einer Lernphase einher, in der sich Mensch und Maschine Stück für Stück näherkommen.

Außer Frage steht, dass der Drive Pilot mit rund 6.000 Euro Aufpreis kein günstiges Vergnügen ist. Die Markteinführung zuerst in der S-Klasse und im EQS kommt wenig überraschend. Das System ist aber nicht nur eine erweiterte Software, sondern kommt mit deutlich mehr Hardware und redundant ausgelegten Komponenten daher. Ausbaufähig sind aus Sicht der Redaktion noch die für das MBUX verfügbaren Inhalte, die jetzt mit dem Drive Pilot ganz legal in Stausituationen abgerufen werden dürfen.

ComputerBase hat Informationen zu diesem Artikel von Mercedes-Benz im Rahmen einer Veranstaltung des Herstellers in Berlin unter NDA erhalten. Die einzige Vorgabe war der frühestmögliche Veröffentlichungszeitpunkt.

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