MB.OS: Mercedes setzt auf Google Maps bei Auto-Betriebssystem
Mercedes-Benz hat heute eine Vorschau auf das anstehende MB.OS gegeben, das eine Architektur vom Chip bis zur Cloud bietet und ein Betriebssystem für alle Fahrzeuge werden soll. Neuer wichtiger Partner ist Google, das mit Google Maps bei MB.OS die Navigation übernehmen wird. Beim Level-3-Fahren geht Mercedes-Benz auf 130 km/h.
Zur Mitte dieses Jahrzehnts soll das Mercedes-Benz Operating System (MB.OS) als allumfassendes Betriebssystem Einzug in die Fahrzeuge des Herstellers halten. Das hat das Unternehmen heute im Rahmen einer Vorschau auf das neue, eigene Betriebssystem in Sunnyvale, Kalifornien angekündigt. Die Einführung des MB.OS geht mit der MMA-Plattform einher, der Mercedes Modular Architecture für künftige Automobile des Herstellers. Konkrete erste Fahrzeuge für das MB.OS hat Mercedes-Benz heute noch nicht angekündigt, das erste Fahrzeug mit MB.OS 1.0 soll aber wie geplant 2024 vorgestellt werden und 2025 auf den Markt kommen.
MB.OS ist das Betriebssystem des gesamten Autos
Das MB.OS wurde mit einer Architektur vom Chip im Auto bis zur Cloud entwickelt, soll also alle Facetten des Fahrzeugs und der Infrastruktur dahinter berühren und dementsprechend auch mit OTA-Updates und Diensten versorgt werden. Deutlich mehr Dienste als bislang verfügbar sollen mit MB.OS in das Auto einziehen und der Spiegelung entsprechender Apps vom Smartphone auf die Displays im Fahrzeug überlegen sein. MB.OS ist zwar ein proprietäres Betriebssystem mit eigenem Hardware- und Software-Layer, zugleich soll es aber offen für die Integration der Dienste von ausgewählten Drittanbietern sein.
Zu unterscheiden gilt es weiterhin zwischen MB.OS als das gesamte Auto-Betriebssystem für Bereiche wie Infotainment, automatisiertes Fahren, Komfort-Einstellungen oder das Fahren und Laden sowie MBUX als nach außen gerichtetes User Interface, mit dem der Anwender im Fahrzeug interagiert. Auch künftig wird für das Infotainmentsystem der Markenname MBUX zum Einsatz kommen. Für das Infotainmentsystem hatte Qualcomm letztes Jahr den Einsatz der Snapdragon Cockpit Platforms durch Mercedes-Benz bekannt gegeben.
Google kommt als neuer Partner an Bord
Einer der neuen Partner ist ein wenig überraschend Google. Mit MB.OS verabschiedet sich das Unternehmen von der bislang mit dem Kartenmaterial von Here gestützten Navigation und wechselt zur Google-Maps-Plattform. Mercedes-Benz spricht allerdings von einer Navigation unter eigener Marke, die auf Basis der Daten von Google Maps in MB.OS integriert wird. Zum Funktionsumfang zählen Echtzeit-Verkehrsdaten und vorausschauende Informationen zum Verkehrsgeschehen, automatische Neuberechnungen der Route und mehr, so wie man es eben aus Google Maps kennt, nur dass Mercedes-Benz weiterhin eine eigene Navigation unter eigener Marke anbietet. Von Google werden auch die sogenannten Place Details bereitgestellt, also die Informationen zu weltweit mehr als 200 Millionen Geschäften, Restaurants und ähnlichen Zielen, die mit Öffnungszeiten, Bildern und Bewertungen angereichert sind.
Die langfristige Partnerschaft mit Google sieht auch vor, dass Daten aus Google Maps beim Fahren für die Assistenzsysteme genutzt werden, um zum Beispiel automatisch vor Kreuzungen, Kreisverkehren oder Kurven die Geschwindigkeit anzupassen.
Vor allem für Elektrofahrzeuge essenzielle Informationen werden ebenso über die neue Navigation geboten, weil MB.OS Zugriff auf die vom Fahrzeug bereitgestellten Daten wie Ladezustand und Verbrauch hat, um etwa präzise Vorschläge für Ladestopps zu machen. In diesen Punkten sollen sich durch den Wechsel zu Google Maps keine Nachteile gegenüber der bislang angebotenen Navigation ergeben.
Place Details von Google als OTA-Update für MBUX 2
Für den Zugriff auf die neuen Place Details braucht es nicht einmal das neue MB.OS. Wie ebenfalls heute angekündigt wurde, lässt sich nach einem ab sofort verfügbaren OTA-Update in allen Fahrzeugen mit dem erstmals 2020 in der S-Klasse (Test) eingeführten und noch aktuellen MBUX 2 (NTG 7) darauf zugreifen. Konkret zählen dazu die Baureihen 223, 206, 295, 297, 296, 294, 254, 232, 177 (ab Produktion 12/2022, Modelljahr 22/2), W247 (ab Produktion 12/2022, Modelljahr 22/2) und V167 (ab Produktion 12/2022, Modelljahr 22/2).
YouTube, Spiele, WebEx und Zoom ziehen ein
Die Kooperation mit Google hat aber auch auf andere Bereiche des Infotainmentsystems Einfluss. Künftig steht Anwendern auch eine native YouTube-App zur Verfügung, auf die sich im Stand oder bei Fahrzeugen mit aktivem Level-3-System auch während der Fahrt zugreifen lässt. Neben dem Videostreaming ist die Integration von Apps aus den Bereichen Gaming und Produktivität vorgesehen. Bei den Spielen sollen Arcade-Games über den Anbieter Antstream Einzug halten, das In-Car-Conferencing sollen hingegen WebEx und Zoom bereitstellen. Speziell für den chinesischen Markt sind zudem Dienste und Inhalte über Tencent vorgesehen.
MBUX 3 kommt vorher mit „MB.OS 0.8“ und Android-Apps
Der vollständige Release von MB.OS 1.0 mit allen Features auf Basis der MMA-Plattform ist zwar erst für 2024 respektive 2025 geplant, einen Zwischenschritt macht das Unternehmen aber bereits heute mit der parallel angekündigten neuen E-Klasse als Nachfolger der seit 2016 erhältlichen Baureihe 213, die ComputerBase damals für das teilautomatisierte Fahren nach SAE-Level 2 im Test hatte. Heute hat Mercedes-Benz zunächst den Innenraum der neuen E-Klasse vorgestellt, der mit MBUX 3 ausgestattet ist. MBUX 3 ist insofern ein Vorbote von MB.OS 1.0, als dass auch dort bereits eine neue API für Android-Apps zur Verfügung gestellt wird, sodass Drittanbieter ihre Anwendungen in das Fahrzeug bringen können.
MB.OS ist nicht Android Automotive
Im Rahmen eines Vorabgesprächs hat Mercedes-Benz klargestellt, nicht auf Android oder Android Automotive zu setzen, sondern bekannte Bausteine wie Linux, QNX und Autosar zu verwenden. Kurze Erläuterung: Android kann im Auto als Betriebssystem ohne Google-Dienste oder eben als Android Automotive mit „Google built-in“, also mit allen Google-Diensten wie etwa bei Polestar (Test) genutzt werden. Bei Mercedes-Benz hat man sich hingegen für eine dritte Variante mit Linux entschieden, die lediglich eine neue Android-Container-API zur Verfügung stellt, über die sich Android-Apps wie Google Maps oder YouTube und andere in das Fahrzeug integrieren lassen.
Nächste Generation Level 2 für das Einstiegssegment
Obwohl es für MB.OS und die MMA-Plattform noch keine konkrete Auto-Ankündigung gibt, soll die nächste Generation des Fahrens mit SAE-Level 2 im Rahmen der MMA-Plattform zuerst im Einstiegssegment Einzug halten. Die neue Plattform soll auch deutlich mehr Rechenleistung erhalten und mit umfangreicher Sensorik ausgerüstet werden. Diese sei laut Mercedes-Benz auch für urbane Umgebungen ausgelegt, um Fußgänger zu erkennen und komplexe sowie dichte Verkehrssituationen zu beherrschen. Wo es regulatorisch erlaubt ist, soll auch bereits bei Level 2 das Fahren ohne Hände am Lenkrad ermöglicht werden. Solche Systeme sind auch bekannt als Level 2+ (Test) und derzeit vor allem aus den USA bekannt. Bei Level 2+ dürfen analog zu Level 3 zwar ebenso dauerhaft die Hände vom Lenkrad genommen werden, der Fahrer ist aber dauerhaft in der Verantwortung und kann die Fahraufgabe nicht vollständig an das Auto übergeben. Level-2-Plus-Systeme setzen deshalb voraus, dass der Blick stets auf das Verkehrsgeschehen gerichtet bleibt.
Mercedes-Benz strebt Level 3 mit 130 km/h an
Beim Fahren nach Level 3 will Mercedes-Benz mit der MMA-Plattform allerdings ebenso den nächsten Schritt gehen. Heute hat das Unternehmen erstmals offiziell bestätigt, Level 3 in der finalen Iteration auf bis zu 130 km/h anheben zu wollen. Kommendes Jahr soll zunächst eine Anhebung auf 90 km/h auf deutschen Autobahnen erfolgen. Der aktuelle Drive Pilot nach Level 3 ist noch auf Autobahnen und Stausituationen von maximal 60 km/h beschränkt. Dass das Unternehmen eine neue Operational Design Domain (ODD) für bis zu 130 km/h ausgestaltet, wurde gegenüber ComputerBase bereits letzten Sommer bestätigt.
Höhere Geschwindigkeiten waren bislang allerdings auch nicht möglich, denn die UN-Regelung Nr. 157 für die Freigabe entsprechender Systeme legte das Tempolimit bislang auf 60 km/h fest. Eine im Juni 2022 durch die UNECE beschlossene Erweiterung der Regelung, die im Januar 2023 in den bislang teilnehmenden Ländern, darunter auch Deutschland, in Kraft trat, sieht jedoch eine Anhebung der Geschwindigkeit für sogenannte „Automated Lane Keeping Systems“ (ALKS) auf 130 km/h vor. Darüber hinaus dürfen künftig auch Spurwechsel von den ALKS durchgeführt werden. Damit steht entsprechenden Assistenzsystem eine deutliche Erweiterung bevor, die eine praktisch dauerhafte Nutzung auf Autobahnen mit Richtgeschwindigkeit ermöglicht. Für die neue ODD müsste Mercedes-Benz allerdings erneut eine Systemgenehmigung durch das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) erreichen.
Drive Orin von Nvidia und Lidar von Luminar
Beim künftigen Fahren nach Level 3 setzt Mercedes-Benz auf Drive Orin von Nvidia, das hatten beide Unternehmen bereits im Sommer 2020 verkündet und für 2024 in Aussicht gestellt. Drive Orin stellt als einzelnes SoC über eine CPU mit zwölf Hercules- alias Cortex-A78-Kernen und einer GPU mit Ampere-Architektur bis zu 254 TOPS (INT8) bereit. Bei der Sensorik zieht künftig Luminar mit deren IRIS-Lidar-Sensor der nächsten Generation ein. Vor etwas mehr als einem Jahr hatte Mercedes-Benz einen Einstig bei Luminar in Höhe von 1,5 Millionen Aktienanteilen im Wert von damals rund 20 Millionen US-Dollar und die Integration in künftige Fahrzeuge angekündigt. Die neue Lidar-Sensorik soll sich unter anderem über die Erkennung selbst kleinster Objekte mit niedriger Reflektivität im infraroten Spektrum auszeichnen.
Schnellere Updates und drei neue Service-Bundles
Mit MB.OS sollen bei Mercedes-Benz durch das Abkoppeln der Software von der Hardware flächendeckende und schnellere Updates und Upgrades ermöglicht werden. Als Backend dient dabei die sogenannte Mercedes-Benz Intelligent Cloud. Das Unternehmen will darüber Dienste für die gesamte Flotte bereitstellen, die Kundendaten selbst verarbeiten sowie die Hoheit darüber und die Kontrolle über die kritische Infrastruktur behalten. Dienste und personalisierte Angebote werden über die „Mercedes me ID“ zentral bereitgestellt.
Bei der Kooperation mit Google ist deren Cloud allerdings nicht außen vor. Mercedes-Benz will zum Beispiel auf die KI- und ML-Fähigkeiten in Googles Cloud zugreifen, um eigene KI-Modelle zu erstellen, zu trainieren und auszuliefern. Flottendaten sollen im Gegensatz zu den Kundendaten ebenso in der Google Cloud verarbeitet werden, wobei noch Details zum genauen Datenfluss ausstehen.
Dienste und Upgrades werden künftig in drei Bundles unterteilt: MB.CONNECT, MB.CHARGE und MB.DRIVE. Unter MB.CONNECT fallen dabei Navigation, Remote-Funktionen, Guard 360, Entertainment und Kommunikation sowie ähnliche Dienste, die über OTA-Updates auf dem aktuellen Stand gehalten werden sollen. Über MB.CHARGE sollen speziell für Elektrofahrzeuge flexible und attraktive Tarife mit fixen Raten für das Schnellladenetz von Mercedes-Benz angeboten werden. Zur CES im Januar hatte das Unternehmen angekündigt, auch ein eigenes Schnellladenetz aufzubauen. Mittels MB.DRIVE soll sich der Funktionsumfang der Assistenzsysteme erweitern lassen, wobei die dafür benötigte Sensorik bis Level 2 bereits ab Werk in jedem neuen Modell verbaut werden soll. In diesem Punkt ähnelt die Herangehensweise der von BMW und den dort verfügbaren „Functions on Demand“, die mit einer Einmalzahlung freigeschaltet werden können. Ausgewählte Fahrzeuge lassen sich bei Mercedes-Benz auch mit Level-3-Funktionalität bestellen. Ab 2025 sollen Upgrades im Bereich der Assistenzsysteme über den Lebenszyklus des Autos kostenpflichtig über den Mercedes me Store angeboten werden, auf den sich über die App, das Web oder das Auto zugreifen lässt.
Mercedes-Benz erwartet mittleren einstelligen Milliardenumsatz
Dementsprechend erwartet Mercedes-Benz auch neue Einnahmequellen, die sich nach aktueller Prognose für MB.CONNECT und MB.DRIVE bis Mitte dieses Jahrzehnts auf bis zu einen mittleren einstelligen Milliardenbetrag summieren sollen. Bereits letztes Jahr hat Mercedes-Benz mit Software einen Umsatz von mehr als einer Milliarde Euro erreicht, für 2025 wird ein Gewinn vor Steuern in selber Höhe erwartet. Software soll zu einem der wichtigsten Bereiche in der Forschung und Entwicklung wachsen und bis Mitte dieses Jahrzehnts 25 Prozent des Budgets ausmachen.
ComputerBase hat Informationen zu diesem Artikel von Mercedes-Benz unter NDA erhalten. Die einzige Vorgabe war der frühestmögliche Veröffentlichungszeitpunkt.