Twitters X-Odyssee: Wissenschaftler wenden sich in großer Zahl ab

Michael Schäfer
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Twitters X-Odyssee: Wissenschaftler wenden sich in großer Zahl ab
Bild: TwitterX: Elon Musk

Eine vom Magazin Nature durchgeführte Umfrage mit über 9.000 teilnehmenden Wissenschaftlern zeichnet ein düsteres Bild von X (ehemals Twitter) im Umgang mit Wissenschaftlern und deren veröffentlichten Inhalten. Rund die Hälfte der Befragten haben ihre dortigen Aktivitäten mittlerweile deutlich reduziert oder X sogar verlassen.

Lange Zeit nutzten Wissenschaftler (damals noch) gerne Twitter als Plattform, um ihre Forschungsergebnisse auch Laien zugänglich zu machen. Dies änderte sich mit der Übernahme von Twitter durch Elon Musk im Oktober 2022. Seitdem hat das soziale Netzwerk nicht nur mit einer massiven Abwanderung von Nutzern, sondern auch mit deutlichen Umsatzeinbußen zu kämpfen, die auch nach rund einem halben Jahr noch anhalten. Die Gründe hierfür liegen nicht zuletzt vor allem im Umgang Musks mit seinen eigenen Ankündigungen und der Nutzerschaft begründet. So kündigte dieser kurz nach der Übernahme eine neue Ära der Meinungsfreiheit an, um nur kurze Zeit später zahlreiche kritische Journalisten vom sozialen Netzwerk zu verbannen. Betroffen waren damals unter anderem Journalisten des Nachrichtensenders CNN, der New York Times sowie der Washington Post. Die Sperren wurden erst wieder aufgehoben, nachdem Musk in einer medienwirksamen Umfrage seine Nutzerschaft dazu befragte.

Zahlreiche Verschlechterungen

Aber auch die Einschränkung der Inhaltsmoderation sowie die Abschaffung des Verifizierungssystems zugunsten zahlender Mitglieder, die dadurch zusätzlichen Einfluss und Privilegien erhielten, trugen ihren Teil dazu bei, dass immer weniger Experten ihre Ergebnisse auf X teilen und den Wert der Plattform für ihre Arbeit überdenken. Die Erhebung von Gebühren für den Zugang zu Forschungsdaten und die Begrenzung der Anzahl von Tweets, die Nutzer sehen können, schlagen in die gleiche Kerbe, wie das renommierte Wissenschaftsmagazin in seinem Artikel ausführt. Gleichzeitig sei eine große Verunsicherung bei vielen Akademikern und Wissenschaftlern zu beobachten, die in den meisten Antworten der Umfrage auf die genannten Veränderungen zurückgeführt wird. Häufig wird in diesem Zusammenhang auch die Befürchtung geäußert, dass die sich verändernde Social-Media-Landschaft einige der Fortschritte zunichtemacht, die Twitter damals in Bezug auf Vielfalt, Gleichberechtigung und Integration in der Wissenschaft ermöglicht hat. Gerade bei weniger bekannten Themen konnte Twitter seinerzeit helfen, auch diese einer größeren Leserschaft zugänglich zu machen. Es scheint auch weniger wahrscheinlich zu sein, dass diese eher unbekannten Forscher für eine Kontoverifizierung bezahlen würden, um ihre Ergebnisse auf X präsentieren zu können. Außerdem befürchten viele, dass ihre Reichweite durch die Änderungen rapide abnehmen wird.

Nutzer müssen sich selbst kümmern

Die mangelnde Moderation ist für viele Forscher der Befragung nach ebenfalls ein Grund, weniger oder gar nichts mehr zu veröffentlichen. Viele stellten eine Zunahme an gefälschten Konten, Trollen und Hassreden fest, auch viele politische rechtsextreme Konten oder Wissenschaftsleugner seien darunter, um die sich Account-Inhaber nun selbst kümmern müssen – in den meisten Fällen durch Blocken. Die Schilderungen decken sich mit Beobachtungen anderer Forscher, dass entgegen Musks öffentlichen Behauptungen verunglimpfende Kommentare weiter zugenommen haben. Zwei Gruppen, die diesen Sachverhalt wissenschaftlich untersuchen wollten, begegnete Musk in gewohnter Manier: Er drohte sie zu verklagen.

Erhobene Zahlen bei Schilderungen schon fast zweitrangig

Angesichts der genannten Gründe und Probleme, von denen die Wissenschaftler auf X berichten, bekommen die erhobenen Zahlen sogar einen eher zweitrangigen Charakter.

Viele Forscher haben ihre Aktivitäten auf X (ehemals Twitter) eingeschränkt
Viele Forscher haben ihre Aktivitäten auf X (ehemals Twitter) eingeschränkt (Bild: Nature.com)

Von den 9.153 Wissenschaftlern, die im Zeitraum vom 11. bis 24. Juli 2023 zu ihrer Nutzung von X in den letzten sechs Monaten befragt wurden, gaben 23,3 Prozent an, den Dienst weniger und 24 Prozent sogar viel weniger genutzt zu haben. 6,7 Prozent der Befragten haben X sogar ganz den Rücken gekehrt. Der Anteil der Wissenschaftler, die X hingegen mehr genutzt haben, fiel mit 6 Prozent („etwas mehr“) und 2,8 Prozent („deutlich mehr) dagegen sehr gering aus. 37,3 Prozent der Teilnehmer gaben dagegen an, dass sich ihr Nutzungsverhalten nicht geändert hätte.

Viele Forscher weichen zu anderen Netzwerken aus
Viele Forscher weichen zu anderen Netzwerken aus (Bild: Nature.com)

Den insgesamt 54 Prozent, die angaben, X weniger oder gar nicht mehr zu nutzen, stehen laut Umfrage 46,1 Prozent zur Seite, die sich in den letzten sechs Monaten einem anderen Social-Media-Dienst angeschlossen haben. Dabei hat sich mit 46,9 Prozent der größte Teil für Mastodon entschieden, wobei der Dienst eine bessere Moderation der Gemeinschaft ermöglichen soll. Bereits mit größerem Abstand folgen LinkedIn mit 34,8 Prozent und Instagram mit 27,6 Prozent, Threads landet in der Aufzählung auf dem vierten Platz. Wird beim neuen Dienst von Meta der Umstand berücksichtigt, dass dieser erst kurze Zeit vor der Umfrage gestartet war, kann der Anteil von 24,9 Prozent durchaus als Achtungserfolg gewertet werden. Auch wenn Threads nach einem fulminanten Start mit rund 100 Millionen Registrierungen aktuell mit rückläufigen Nutzerzahlen zu kämpfen hat, kann sich der Anteil der Umsteiger durchaus erhöht haben. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der Dienst aktuell aufgrund von ungeklärten Fragen zum Datenschutz und dem Wettbewerbsrecht derzeit in Europa noch nicht nutzbar ist. TikTok scheint in der Wissenschaftswelt keinen großen Stellenwert zu besitzen, bildet es mit 6,6 Prozent hinter Facebook mit 22,4 Prozent das Schlusslicht der bekannten und weltweit genutzten Netzwerke.

Twitter hat vieles einfacher gemacht

Das Ausweichen auf verschiedene soziale Netzwerke birgt jedoch ebenso die Gefahr der Fragmentierung und dass weniger Nutzer mit den eigenen Inhalten erreicht werden können. Zudem muss die Anhängerschaft in nicht wenigen Fällen neu aufgebaut werden, was bei vielen Forschern Jahre in Anspruch nehmen kann. Mit Twitter als große Anlaufstelle war das anders – Anwender mussten nur einem bestimmten Hashtag folgen und fanden viele relevante Publikationen. Gleichzeitig schuf Twitter ein gewisses Gemeinschaftsgefühl unter den Wissenschaftlern, insbesondere für diejenigen aus unterrepräsentierten Fachgebieten. Der Nachrichtendienst konnte aber auch als wichtige Institution dienen, um auf Themen wie Belästigung, ungleiche Bezahlung, Ungerechtigkeit oder andere Punkte aufmerksam zu machen. Viele Journalisten, die die Plattform ebenfalls nutzten, haben sich mancher dieser Themen angenommen und sie in die breite Öffentlichkeit geführt.

Twitter als Forschungsobjekt und Datenlieferant

Auch die offene Programmierschnittstelle (API) war für viele Forscher ein Grund, ihre Erkenntnisse auf Twitter zu veröffentlichen. Diese ermöglichte es den Wissenschaftlern in vielerlei Hinsicht zu verfolgen, wie Nutzer auf der Plattform miteinander interagieren. Das führte unter anderem zu Studien darüber, wie diese über den Klimawandel diskutierten oder wie Menschen mit Autismus die Plattform nutzten, um sich Gehör zu verschaffen. Im Februar kündigte Musk dann an, den kostenlosen Zugang zur API abzuschaffen, bevor die Änderung dann Ende Juni in Kraft trat. Seitdem wurden zahlreiche Projekte, unter anderem zu Fehlinformationen, Katastrophenreaktionen und sozialen Dynamiken im Internet gestoppt oder behindert. Auch der Datenaustausch zwischen den Forschern gestaltet sich mittlerweile schwieriger, es sei denn, alle Beteiligten zahlen für ihren Zugang.

Zukunft offen, X schweigt

Wird bei X keine Kehrtwende vollzogen, werden sich veröffentlichte Publikationen und Inhalte künftig auf mehrere Dienste verteilen und Nutzer müssten sich erst einmal darüber informieren, wo welcher Forscher nun aktiv ist. Wird Musk mit X weiterhin so umgehen wie bisher, dürfte sich die Situation weiter verschlechtern. Mark Carrigan, ein digitaler Soziologe am Manchester Institute for Education, Großbritannien, fasst die aktuelle Situation wie folgt zusammen: „Ich bin zu 99 Prozent davon überzeugt, dass Twitter, so wie wir es kennen, tot ist, und je eher die Akademiker das akzeptieren, desto besser für die Suche nach Lösungen für diese Probleme.

X hat bisher auf die Bitte von Nature um eine Stellungnahme nicht reagiert.