Nio EL8 angeschaut: Komfortabler Sechssitzer sucht den Weg aus der Nische
Nio bringt mit dem EL8 das größte und teuerste elektrische SUV des Unternehmens auf den deutschen Markt. Der Sechssitzer bedient eine spezielle Luxusnische, in der sich auch Mercedes EQS SUV oder Kia EV9 tummeln. Das Interieur des Nio EL8 ist auf Komfort ausgelegt und lädt fast schon mehr zum Mitfahren als zum Selbstfahren ein.
Auslieferung im September
Der EL8 soll im Laufe des Septembers an erste Käufer ausgeliefert werden, bestellen lässt sich das Fahrzeug ab 82.900 Euro in der Standardkonfiguration oder ab 87.900 Euro als Executive-Modell. Einzelsitze in der zweiten Reihe bieten beide Varianten, nur der EL8 Executive kommt mit einer Mittelkonsole dazwischen, die auch einen kleinen Kühlschrank aufnimmt. Darüber hinaus gehören 12-fach elektrisch verstellbare Ottoman-Rücksitze und das Premium Comfort Package zur teureren Ausführung. Bestandteile dieses Pakets sind Vordersitze mit Massagefunktion, Sitze in der zweiten Reihe mit Massage und Belüftung sowie eine Sitzheizung für die dritte Reihe.
Die Batterie lässt sich kaufen oder mieten
Zum Startpreis von 82.900 Euro gehört allerdings noch keine Batterie, denn die ist als Besonderheit des Herstellers bei allen Modellen in sogenannten Power Swap Stations austauschbar. Die Batterie können Käufer alternativ zu Einmalkosten von 12.000 Euro (Standard Range) oder 21.000 Euro (Long Range) erwerben, sie dürfen dann jedoch nicht die Power Swap Stations anfahren. Diese sind Besitzern vorbehalten, die sich für „Battery as a Service“ (BaaS) entschieden haben. Anstelle der Einmalkosten belaufen sich die monatlichen Mietkosten auf 169 Euro (Standard Range) oder 289 Euro (Long Range).
So läuft der Vorgang in der Power Swap Station ab
Sofern man sich für BaaS entschieden hat, darf zweimal pro Monat kostenlos eine Power Swap Station für den Batterietausch angefahren werden, in der sich nach dem Parken in einem gekennzeichneten Bereich vor der Station über die Assistenzsysteme gesteuert vollständig automatisiert in rund fünf Minuten eine auf 90 Prozent geladene Batterie im Unterboden des Fahrzeugs installieren lässt – das Warten an der Ladestation entfällt damit. Als Besucher zahlt man die Differenz in Kilowattstunden von abgegebener zu neu erhaltener Batterie, wobei Nio aktuell 39 Cent/kWh ansetzt. Ab dem dritten Besuch einer Power Swap Station im Monat kommen Kosten von 10 Euro für jeden weiteren Tausch hinzu.
Keine Batterie-Up- und Downgrades möglich
Der Batteriewechsel ist an derzeit 53 Power Swap Stations in Europa, davon 17 in Deutschland möglich. 24.000 dieser Batteriewechsel haben Kunden von Nio seit Eröffnung der ersten Power Swap Station im Oktober 2022 in Deutschland durchgeführt, erklärte Nio zum Termin in der Nähe von Köln. Demnächst sollen auch die ersten Power Swap Stations der dritten Generation an den Start gehen, die einen Batteriewechsel innerhalb von drei statt fünf Minuten durchführen können. Ein Akkutausch ist in Deutschland nur auf denselben Typ möglich, da ein wesentliches Bauteil des Fahrzeugs getauscht wird, dessen Homologation mit dem neuen Bauteil übereinstimmen muss.
Laden neuerdings mit bis zu 240 kW
Soll der Akku nicht getauscht, sondern klassisch geladen werden, ist das bei dem zur Probe gefahrenen Long-Range-Modell neuerdings mit bestenfalls 240 kW und dann lediglich 20 Minuten für einen Ladevorgang von 10 auf 80 Prozent möglich, nachdem ältere Modelle mit gleicher Kapazität noch maximal 140 kW ermöglichten. Die neuesten großen Nio-Batterien mit einer Nettokapazität von 90 kWh lassen sich ausschließlich an Ladestationen, die unter optimalen Bedingungen 660 A Strom liefern, mit bis zu 240 kW laden. Mit einem typischen Ladegerät eines Drittanbieters, das 500 A liefert, beträgt die Ladeleistung bis zu 185 kW. Der Hersteller gibt für das Long-Range-Modell einen Verbrauch von 21,2–22,3 kWh/100 km und eine Reichweite von 487–510 km an.
In China sind Batterie-Up- und Downgrades hingegen möglich. An den dort über 2.500 Power Swap Stations sind laut Angaben des Unternehmens seit dem Marktstart über 50 Millionen Batteriewechsel durchgeführt worden – rund 79.000 pro Tag.
266 Zulassungen in sieben Monaten
Im Heimatland von Nio besetzen die Fahrzeuge und das Konzept des Batteriewechsels somit – anders als in Deutschland – keine Nische mehr, zumal Nio hierzulande ohnehin eine Automarke ist, die mit vergleichsweise geringen Absatzzahlen zurechtkommen muss. Laut offiziellen Zahlen des Kraftfahrt-Bundesamtes sind im Juli dieses Jahres lediglich 32 Zulassungen hinzugekommen, insgesamt 266 Zulassungen in 2024 nennt das KBA für Nio. Zum Vergleich: BYD kommt bislang auf 1.432, Lynk & Co auf 46, Polestar auf 2.007 und Xpeng auf 47 Zulassungen. Für die Branchengröße Tesla nennt das KBA bereits 23.719 Zulassungen in diesem Jahr.
Ein Sechssitzer-SUV für große Familien
Rein an den Zahlen gemessen ist Nio demnach ein Nischenhersteller von E-Autos in Deutschland, der mit dem EL8 sein größtes und teuerstes elektrisches SUV auf den Markt bringt und damit sozusagen die Nische in der Nische bedient, in der sich nur wenige andere Fahrzeuge wie ein Mercedes EQS SUV oder Kia EV9 tummeln. Nio sieht den EL8 als Auto für (gut betuchte) Familien und für Personen, die sich gerne fahren lassen anstatt selbst zu fahren. Dafür stehen auf 5.099 × 2.073 (Spiegel eingeklappt) × 1.750 mm insgesamt sechs Sitzplätze zur Auswahl, wobei vier davon in den ersten zwei Reihen einzeln ausgeführt sind und in dritter Reihe eine durchgehende Bank zum Einsatz kommt. Das Leergewicht beträgt 2.558 kg, das Gesamtgewicht darf bei maximal 3.190 kg liegen.
Komfort wird auch hinten groß geschrieben
Damit dieses Konzept aufgeht, hat das Unternehmen für reichlich Komfort vor allem hinter der ersten Sitzreihe gesorgt. Isofix-Halterungen gibt es auf vier Plätzen; Sitzheizung, Sitzbelüftung und Massagefunktion bis in die zweite Reihe und ganz hinten immerhin noch beheizbare Sitze. Die Klimatisierung erfolgt in fünf Zonen, wobei man sich nur ganz hinten bei der Temperatur einig werden muss. Kühlen und aufwärmen lassen sich zudem Getränke und Lebensmittel, sofern das Executive-Modell gewählt wurde, das zwischen den Einzelsitzen der zweiten Reihe ein Kühl- und Wärmefach bereitstellt. Verbaut werden außerdem acht USB-C-Anschlüsse, davon fünf mit 60 Watt, zwei drahtlose Ladepads mit jeweils 40 Watt sowie jeweils eine 12-Volt-Steckdose vorne im Fahrzeug und im Kofferraum.
Soundsystem mit Dolby Atmos
Für die Unterhaltung im Auto sorgen 23 Lautsprecher mit 2.230 Watt, die in einer 7.1.4-Konfiguration angeordnet sind und Dolby Atmos wiedergeben können. Mit Tidal ist der passende Streaming-Anbieter im Auto zugegen, bei der ebenfalls angebotenen Spotify-App fehlt Dolby Atmos jedoch. Apple Music und YouTube Music sind hingegen überhaupt nicht bei Nio vertreten, diese Dienste können via Bluetooth genutzt werden.
Infotainmentsystem ohne Apple oder Google
Denn Nio verzichtet ähnlich wie zum Beispiel Tesla oder Rivian auf die Integration von Android Auto und Apple CarPlay. Der 12,8 Zoll große AMOLED-Bildschirm auf der Mittelkonsole dient ausschließlich der Darstellung des eigenen Betriebssystems Banyan, dessen Startbildschirm die Navigation in den Fokus rückt, während größere Widgets für Multimedia und das Fahrzeug selbst zuständig sind. Weitere Einstellungen, die Klimatisierung oder eine Übersicht aller Apps finden Anwender in einer Leiste am unteren Bildschirmrand. Benachrichtigungen oder Schnelleinstellungen zur Konnektivität sind wie bei einem Smartphone über eine Leiste oben am Display erreichbar. Einmal im Hauptmenü angekommen, erinnert die Strukturierung an die von Tesla, was aufgrund der übersichtlichen Anordnung und des hohen Bedientempos positiv zu werten ist.
Banyan 2.3.5 bringt einige Updates
Banyan soll gegen Ende August ein OTA-Update auf Version 2.3.5 erhalten, der EL8 kommt mit der Auslieferung im September ab Werk damit. Einzug halten damit eine verbesserte Ansteuerung der Matrix-LED-Scheinwerfer mit Anti-Glare, um den Gegenverkehr nicht zu blenden, ein Battery Health Display, eine verbesserte Navigation und Reichweitenprognose, reduzierte Benachrichtigungen, ChatGPT für den Nomi-Assistenten auf dem Armaturenbrett, eine Karaoke-App und ein Browser. Den Browser und Videostreaming müssen Kunden über einen eigenen Hotspot abwickeln, da Nio laut eigener Aussage aufgrund der kostenfreien Datenanbindung ansonsten wie ein Telekommunikationsanbieter mit denselben Vorgaben einzustufen sei. In Deutschland können Nio-Besitzer derzeit maximal LTE nutzen, 5G-Technik sei aber bereits verbaut.
Vier Nvidia Drive Orin für 33 Sensoren
Direkt vor dem Fahrer spielt sich auf 10,2 Zoll das digitale Kombiinstrument für fahrrelevante Informationen und die Visualisierung der Assistenzsysteme ab. Nicht untypisch für chinesische Hersteller ist die offene Kommunikation rund um die ADAS-Technik, die zum Einsatz kommt – und die fällt beim EL8 üppig aus, wenngleich einiges an Potenzial noch brachliegt. „Aquila“ nennt Nio die eigene Sensor-Suite, die aus 33 Sensoren besteht, darunter sieben 8-MP-Kameras, vier 3-MP-Kameras mit hoher Empfindlichkeit, fünf Radare, zwölf Ultraschallsensoren, ein LiDAR, ein Fahrerüberwachungssystem und eine Hands-off-Erkennung. Das alles läuft zusammen im „Adam“, dem Zentralrechner mit vier redundant ausgelegten Nvidia Drive Orin, die in Summe über 1.000 TOPS erreichen sollen. 6,4 Milliarden Pixel pro Sekunde könne Adam verarbeiten und Daten mit dem Cockpit-Domain-Controller austauschen, um die Assistenzfunktionen zu optimieren, erklärt Nio.
Mehr als Level 2 ist noch nicht möglich
Stand heute ermöglicht die hohe Rechenleistung in der Praxis allerdings maximal das SAE-Level 2. Das Auto kann demnach Gas und Bremse übernehmen und beim Lenken, Halten der Spur und Spurwechsel unterstützen. Verkehrszeichen wurden während einer Probefahrt in den westlichen Außengebieten Kölns zuverlässig erkannt, eine automatische Übernahme neuer Tempolimits unterstützt Nio jedoch nicht. Fahrer erhalten stattdessen einen Hinweis dazu im Kombiinstrument und können die neue Geschwindigkeit durch einmaliges Tastendrücken auf der linken Lenkradspeiche übernehmen. Dort findet man grundsätzlich alle Schaltflächen rund um die Aktivierung und Nutzung der Assistenzsysteme, um Vorschläge zu übernehmen oder um die Geschwindigkeit bei aktivem Tempomat manuell in bis zu 5-km/h-Schritten zu justieren.
Nimmt man die Hände für längere Zeit vom Lenkrad, erscheinen und ertönen wie bei allen anderen Level-2-Systemen anderer Hersteller nach kurzer Zeit entsprechende Warnhinweise und -töne. Für das Fahren nach Level 2+ oder gar Level 3 sei „Adam“ zwar potenziell ausgelegt, eine baldige Zulassung ist aber nicht in Sicht. Mit dem zuvor erwähnten Update auf Banyan 2.3.5 kommt immerhin eine Option hinzu, um über die Taste links am Lenkrad schnell zwischen ACC („Adaptive Cruise Control“) und ACC mit LCC („Lane Centering Control“) zu wechseln.
Sanftes Gleiten und sicheres Stoppen
Beim manuellen Fahren fällt in erster Linie die äußerst komfortable Abstimmung des EL8 auf, für die wie bei der Premium-Limousine ET7 oder dem eine Nummer kleineren EL7, die ebenso auf der Nio Platform B (NPB) basieren, eine Doppelkammer-Luftfederung verantwortlich ist. Mit der NPB geht auch der Allradantrieb mit insgesamt 480 kW einher, während Fahrzeuge wie der ET5 (Touring) oder EL6 die Nio Platform C (NPC) mit 360 kW und Stahlfedern nutzen. Gefahren hat die Redaktion das Auto ausschließlich im standardmäßig aktiven Komfortmodus, der mehr zum Gleiten als schnellen Kurvenfahren gedacht ist. Im „Sport+“ kann man aber auch in 4,1 s auf 100 km/h sprinten, bevor bei 200 km/h elektronisch abgeregelt wird. Zum Stehen bringen den EL8 belüftete Bremsscheiben mit 6-Kolben-Bremssätteln von Brembo an der Vorderachse. Das zeigt, dass Nio auch in sicherheitsrelevanten Bereichen auf namhafte Zulieferer setzt.
Ersteindruck zum Nio EL8
Das ist auch ganz allgemein der Ersteindruck, der bei ComputerBase nach der ersten Probefahrt mit einem Nio und im Speziellen mit dem EL8 hängen bleibt: Der Hersteller setzt auf hochwertige Komponenten und verbaut sie mit überzeugender Verarbeitungsqualität, die dem Niveau der in Deutschland etablierten Premiummarken entspricht.
Der EL8 ist mit mindestens 82.900 Euro, bevor weitere Kosten für die gemietete oder gekaufte Batterie hinzukommen, jedoch alles andere als ein Schnäppchen, sodass man durchaus mit gewissen Anforderungen und Erwartungen in Bereichen wie der Qualität und Ausstattung an das Fahrzeug herantreten darf. Zum Vergleich: Ein Mercedes EQS SUV kostet mindestens 110.800 Euro, während der Kia EV9 ab 72.490 Euro zu haben ist. Inklusive Batterie landet man mit dem Nio EL8 somit in der Lücke dazwischen, wobei potenziell ab November noch Strafzölle auf den EU-Import chinesischer E-Autos hinzukommen.
Mit Hürden wie diesen scheint Nio die Nische deshalb vorerst nur im Kriechgang verlassen zu können, obwohl das Unternehmen interessante und hochwertige Fahrzeuge anbietet – der EL8 ist eines davon. Aber so beeindruckend der EL8 teils auch sein mag, speziell die Autoklasse des sechssitzigen SUVs bedient eine Nische innerhalb der Nische von Nio.
ComputerBase hat Informationen zu diesem Artikel von Nio im Rahmen einer Veranstaltung des Herstellers in der Nähe von Köln erhalten. Die Kosten für Anreise und Abreise wurden von dem Unternehmen getragen. Eine Einflussnahme des Herstellers auf die oder eine Verpflichtung zur Berichterstattung oder ein NDA bestand nicht.
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