Mercedes-Benz Drive Pilot auf 95 km/h erweitert: Das schnellste Level-3-Fahren ist auch ohne Stau verfügbar
Mercedes-Benz erweitert den nach Level 3 agierenden Drive Pilot von maximal 60 km/h auf bis zu 95 km/h. Damit braucht es keinen Stau mehr, um das System für jetzt deutlich längere Zeit auf der Autobahn zu nutzen. Auf der Langstrecke kann der Drive Pilot übernehmen und dem Fahrer Nebentätigkeiten ermöglichen. Eine Probefahrt.
Drive Pilot war erstes Level-3-System in Deutschland
Der Drive Pilot von Mercedes-Benz (Test) war das erste in Deutschland zugelassene Level-3-Assistenzsystem, das hochautomatisiertes Fahren in Stausituationen bis 60 km/h bei einem vorausfahrenden Fahrzeug ermöglicht und das dem Fahrer durch die Übergabe der Fahraufgabe an das System Nebentätigkeiten erlaubt, die ohne den Drive Pilot untersagt wären. Dazu gehören etwa Spiele auf dem Infotainmentsystem, das Surfen im Browser oder Videos. Auch für geschäftliche Tätigkeiten, ein Telefonat, das Konzentration verlangt, oder einfach nur für eine entspannte Auszeit beim langsamen Fahren im Stau war das System bislang geeignet.
Erweiterung von 60 auf 95 km/h
Der Drive Pilot war bislang aber eben genau das, ein Assistenzsystem ausschließlich für Stausituationen, wenn nicht schneller als 60 km/h gefahren wurde. Für den regulär fließenden Verkehr war der Drive Pilot aufgrund der Geschwindigkeitsbeschränkung nicht geeignet. Das ändert sich demnächst mit der Erweiterung des Assistenzsystems auf bis zu 95 km/h, deren Zulassung Mercedes-Benz gegen Ende dieses Jahres erwartet und die Markteinführung darauf folgend für Anfang 2025 vorgesehen hat.
Unterwegs im fließenden Verkehr auf der rechten Spur
Ein vorausfahrendes Fahrzeug setzt der Drive Pilot auch mit der Erweiterung auf 95 km/h weiterhin voraus, doch im Stau stehen oder sich in einer Stausituation mit Stop-and-go-Verkehr befinden muss man fortan nicht mehr. Das Assistenzsystem lässt sich künftig zu beliebiger Zeit aktivieren, sofern sich das Auto auf der rechten Spur befindet und ein anderes Fahrzeug auf derselben Spur mit bis zu mehreren Hundert Metern Abstand vorausfährt. Die Verfügbarkeit des Drive Pilot wird damit eklatant gesteigert, da kein Stau mehr für diese benötigt wird. Soll nach Level 3 gefahren werden, begibt man sich mit der neuen Drive-Pilot-Version einfach auf die rechte Spur und folgt den dort üblicherweise langsamer fahrenden Pkw und Lkw.
95 km/h ermöglichen zwar die Teilnahme am fließenden Verkehr auf der rechten Autobahnspur, aber noch nicht das Mitschwimmen auf der mittleren oder ganz linken Spur. Dessen ist sich auch Mercedes-Benz bewusst, weshalb beim Fahren mit Drive Pilot von 61 bis 95 km/h ausschließlich die rechte Spur genutzt werden kann. Sichergestellt wird dies über hochauflösende Kartendaten und eine zentimetergenaue Positionsbestimmung über mehrere Satellitensysteme wie GPS und Galileo.
130 km/h zum Ende der Dekade geplant
Perspektivisch gesehen will Mercedes-Benz bis zum Ende dieser Dekade das Fahren nach Level 3 mit bis zu 130 km/h unterstützten. Das hatte der Hersteller bereits zu einem früheren Zeitpunkt in Aussicht gestellt und jüngst im Rahmen einer Fahrveranstaltung in Berlin erneut bekräftigt. Auf der Avus im Westen Berlins konnte sich ComputerBase den neuen Drive Pilot bis 95 km/h letzte Woche erstmals ansehen.
Kostenloses OTA-Update für Drive-Pilot-Kunden
Die gute Nachricht für bisherige Besitzer des Drive Pilot gleich vorweg: Die Erweiterung auf 95 km/h erfolgt kostenlos per OTA-Update oder Werkstattbesuch. Wo respektive wie die Software aktualisiert wird, können sich Kunden frei aussuchen, neue Hardware setzt die Erweiterung nicht voraus. Verfügbar war das Assistenzsystem bislang für S-Klasse und EQS, daran ändert sich mit der aktuellen Umsetzung nichts. Auch den Preis bei einer Neuanschaffung belässt Mercedes-Benz unverändert bei 5.950 Euro. Effektiv fällt der Preis aber in beiden Modellen höher aus, da das in der S-Klasse serienmäßige Fahrerassistenzpaket beim EQS eine optionale Sonderausstattung ist und generell gewisse Abhängigkeiten bestehen, sodass man bei Auswahl des Drive Pilot mit Kosten von insgesamt rund 11.000 Euro rechnen muss.
System bietet Puffer zu 80 km/h schnellen Lkw
In der Praxis gestaltet sich die Nutzung vergleichbar zur bisherigen Lösung, nur dass oberhalb von 60 km/h auf der rechten Spur gefahren werden muss, um den Drive Pilot aktivieren zu können. Weil bis 60 km/h von einem Stau respektive einer stauähnlichen Situation ausgegangen wird, kann der Drive Pilot in diesem Szenario auf allen Fahrspuren genutzt werden. Für den regulär fließenden Verkehr ist aber die rechte Spur Pflicht, wobei Mercedes-Benz 95 km/h nicht rein zufällig gewählt hat, sondern einen Puffer zu 80 km/h schnellen Lkw schaffen wollte, die je nach Genauigkeit des Begrenzers oder zum Beispiel beim Bergabfahren auch schneller unterwegs sein können. Damit bleiben bei aktivem Level-3-System sozusagen 15 km/h Spielraum.
Türkis signalisiert aktiven Drive Pilot
Ein auf dem jeweiligen Autobahnabschnitt verfügbarer respektive aktiver Drive Pilot ist anhand der bereits zuvor genutzten Signalfarbe Türkis an den zwei Schaltflächen am Lenkrad sowie im Fahrer- und Head-up-Display erkennbar. Rein theoretisch lässt sich der Drive Pilot auf allen Autobahnkilometern Deutschlands nutzen, praktisch sind aber Baustellen, Tunnel, Auf- und Abfahrten, Regen, Schnee und Eis Ausschlusskriterien. Das System lässt sich außerdem nicht aktivieren, wenn es in der jeweiligen Situation schlichtweg nicht sinnvoll ist, etwa wenn bei aktiver Navigation ohnehin in Kürze das Abfahren von der Autobahn bevorsteht.
Automatic Lange Change nach Level 2+
Die sogenannte ODD, die Operational Design Domain, die die Grenzen des Systems absteckt, hat sich somit mit Ausnahme der Höchstgeschwindigkeit nicht fundamental verändert. Bei BMW ist man mit dem Personal Pilot im i7 teils schon etwas weiter, da dort auch Tunnel und Fahrten bei Dunkelheit zur ODD gehören. Doch im 7er ist man derzeit noch auf 60 km/h und somit wie zuvor bei Mercedes-Benz auf Stausituationen beschränkt. Im Gegenzug beherrscht BMW im 7er und 5er aber das dauerhafte Fahren nach Level 2+ bis 130 km/h mit „hands off“ und „eyes on“, was bei Mercedes-Benz selbst jetzt mit der Erweiterung des Drive Pilot nicht der Fall ist. Ein Level-3- und ein Level-2(+)-System müssen eben strikt voneinander getrennt betrachtet werden.
Automatische Spurwechsel von 80 bis 140 km/h
Unter Level 2+ fällt bei Mercedes-Benz hingegen der Automatic Lange Change (ALC) im Geschwindigkeitsbereich 80 bis 140 km/h, in dem auf der Autobahn unter Einhaltung des Rechtsfahrgebotes vollständig automatische Spurwechsel respektive Überholvorgänge ausgeführt werden, wenn das Auto einem langsamer fahrenden Fahrzeug auf derselben Spur näher kommt. Das wiederum beherrscht BMW noch nicht in dieser Form, wenngleich dort lediglich eine Blickbestätigung für den gleichen Vorgang ausreicht, der zudem auch bei aktivem Level 2+, also ohne Hände am Lenkrad stattfinden kann, was bei Mercedes-Benz nicht klappt.
A+ 95 als Zusatz im Fahrer- und Head-up-Display
Sobald der Drive Pilot angeboten wird, lässt er sich über eine der beiden Tasten mit der Beschriftung „A“ am Lenkrad aktivieren. Im Fahrer-Display erscheint daraufhin ein entsprechendes Symbol mit dem Zusatz „60“ oder bei Nutzung der neuen erweiterten Version ein „A+“ mit einer „95“ daneben. Darüber hinaus wechselt neben den Leuchteinheiten am Lenkrad auch das Cockpit zu einer türkisfarbenen Darstellung mit einem entsprechend gefärbten „Teppich“ vor dem eigenen bis zum vorausfahrenden Fahrzeug. Die gleiche Anzeige findet der Fahrer zudem im AR-Head-up-Display. Von der Anzeige der Verfügbarkeit bis zum tatsächlich aktiven System vergehen nach Drücken der Taste wenige Sekunden, in denen letzte Checks durchgeführt werden und die Fahraufgabe schließlich an das Assistenzsystem übergeben wird.
Zeitschrift lesen, YouTube gucken oder Spiele
Daraufhin fährt das Auto hochautomatisiert nach Level 3 oder einfacher ausgedrückt: Es fährt selbst. Level 3 bedeutet „eyes off“ und „hands off“, sodass dauerhaft freihändig gefahren und sich ganz legal Nebentätigkeiten gewidmet werden darf. Eine Zeitschrift aufschlagen und lesen, ein Multiplayer-Spiel auf dem Infotainmentsystem starten und mit dem Beifahrer zocken, im Web surfen, Videos auf YouTube streamen oder einen ganzen Film in der von Sony entwickelten Ridevu-App schauen, all das ist bei aktivem Drive Pilot legal möglich. Auch das persönliche Smartphone lässt sich nutzen, Mercedes-Benz rät für die Nebentätigkeiten aber eher zum Infotainmentsystem, da ein vor Lenkrad und damit Airbag gehaltenes Smartphone bei einem Unfall, der ja nicht mal selbstverschuldet sein muss, potenziell zum Geschoss werden kann. Das Telefon sollte deshalb etwas weiter rechts gehalten werden.
Übernahmefrist von 10 Sekunden
Level 3 bedeutet aber auch, dass ein Fahrer weiterhin notwendig ist und gewisse Anforderungen an diesen gestellt werden. Erst beim Fahren nach Level 4, so wie es sich die Redaktion bei Waymo in Phoenix ansehen konnte, ist der Fahrerplatz gar nicht mehr belegt und „mind off“, also ein Nickerchen zwischendurch wäre erlaubt. Die Hände können bei Level 3 aber dauerhaft vom Lenkrad genommen und der Blick anderen Dingen gewidmet werden. Bei Level 3 muss der Fahrer übernahmebereit bleiben, falls das System nach längerer Nutzung während der Fahrt mal nicht mehr verfügbar ist. Für dieses Szenario gibt es eine Frist von 10 Sekunden, bevor das System mit akustischen und optischen Hinweisen warnt, auch am Gurtstraffer zieht, um einen potenziell abwesenden Fahrer wachzurütteln und nach mehreren Eskalationsstufen schließlich einen mit sanfter Bremsung ausgeführten Nothalt in der eigenen Spur ausführt und Notdienste informiert.
Die Frage der Haftung
Eine häufig bei Level-3-Systemen aufkommende Frage ist die der Haftung. Dabei ist klar geregelt: Kommt es durch einen Systemfehler zu einem Unfall, haftet der Autohersteller. Ist eine dritte Person Unfallverursacher, haftet eben diese Person. Und verhält sich die Person im Level-3-Fahrzeug fahrlässig, dann verschiebt sich die Haftung in diese Richtung. Fahrlässig kann dabei zum Beispiel das Herausfordern der Übernahmefrist sein. Diese liegt zwar bei 10 Sekunden, sobald sie aber erscheint, muss der Fahrer übernehmen. Es darauf anzulegen, die vollen 10 Sekunden auszureizen, ist bereits fahrlässiges Handeln. Ganz anders sieht es natürlich noch einmal aus, wenn bewusst versucht wird, das System auszutricksen und in einem Zustand zu halten, der nicht für die jeweilige Situation vorgesehen ist.
Dieser weiterhin bestehenden Verantwortung muss man sich bewusst sein, sie steht aber nicht einem äußerst entspannten Fahren im Weg, sobald man den Drive Pilot aktiviert hat. In seiner bevorstehenden Umsetzung bis 95 km/h fühlt sich das System aufgrund der breiten Verfügbarkeit auch ohne Stau deutlich mehr nach Zukunft an als die 60-km/h-Version. Das kann in dieser Form weltweit kein anderer Autohersteller, selbst der in den USA als Betaversion verfügbare Tesla Autopilot geht obgleich des unpassenden Namens maximal bis Level 2+, also „hands off“, aber „eyes on“.
Mercedes-Benz setzt auf viel Sensorik
Ob eines Tages Level 3 wirklich ausschließlich kamerabasiert möglich sein wird und so in Deutschland zugelassen werden kann, das muss Herr Musk beweisen. Mercedes-Benz wiederum beweist, dass es mit einer umfangreichen Sensor Suite aus ganz bewusst vielen unterschiedlichen Sensoren funktioniert und zulassungsfähig ist. Der Autohersteller setzt auf eine Mischung aus Kameras, Radar, Ultraschall und LiDAR, weil jede Sensortechnologie ihre Vor- und Nachteile in unterschiedlichen Situationen hat. Zum Beispiel funktioniert Radar auch bei verschmutztem Fahrzeug, Staub und Nebel. Kameras wiederum sind sehr gut für die Klassifizierung von Objekten geeignet, während LiDAR viele Details liefert und auch in der Höhe messen kann. Die unterschiedlichen Sensoren gleichen ihre Schwächen sozusagen gegenseitig aus und sorgen in Summe für eine zuverlässige Umgebungserfassung.
Redundante Systemarchitektur
Der Drive Pilot arbeitet darüber hinaus mit einer redundanten Systemarchitektur, sodass Systeme wichtiger Funktionen wie Bremsen, Lenkung und Bordnetz mehrfach vorhanden sind, damit bei potenziellen Störungen noch immer eine sichere Übergabe an den menschlichen Fahrer möglich ist, ohne dass ein System vollständig ausfällt.
Markierungslichter für Außenstehende geplant
Für außenstehende Personen muss das Fahren nach Level 3 ein teils verwirrender Anblick sein. Denn der Blick von der anderen Spur ins Cockpit zeigt einen nicht aufmerksamen Fahrer, der sich mit allerlei Dingen abzulenken anstatt auf den Verkehr zu achten scheint. Auch für Einsatzkräfte wie Polizei, Feuerwehr und Sanitäter mag der Anblick für reichlich Fragezeichen sorgen. Ein aktives Level-3-System nach außen kommunizieren sollen deshalb türkisfarbene Lichter an Front, Heck und Seitenspiegeln. Die US-Bundesstaaten Nevada und Kalifornien haben Mercedes-Benz bereits entsprechende Ausnahmegenehmigungen für die Erprobung erteilt. Wie der Autohersteller erklärt, habe die Erprobung dort bereits erste positive Ergebnisse geliefert. In Deutschland allerdings fehlt aktuell ein Rechtsrahmen für die Markierungslichter. Mercedes-Benz will die Systemarchitektur aber in Übereinstimmung mit den definierten Standards weiter anpassen, sobald sich diese in Deutschland weiterentwickelt haben.
Durch den Stau mit automatischer Rettungsgasse
Apropos Rettungskräfte: Der Drive Pilot bildet in Stausituationen bis 60 km/h stets eine Rettungsgasse, damit Einsatzfahrzeuge schnell durchkommen. ComputerBase konnte dieses Szenario rein zufällig während der Rückkehr von der Avus ebenfalls erleben, als sich ein kurzer Stau gebildet hat. Nicht zurecht kam das System mit einem die Gasse ausnutzenden Motorradfahrer, der einen kurzen Wechsel zum manuellen Fahren erforderte, bis der Drive Pilot wenige Sekunden später wieder zur Verfügung stand. Während das Auto weiter im Stau dahinschlich, konnten sich Fahrer und Beifahrer mit einer Runde virtuellem Airhockey anderen Dingen widmen.
ComputerBase hat Informationen zu diesem Artikel von Mercedes-Benz im Rahmen einer Veranstaltung des Herstellers in Berlin unter NDA erhalten. Die einzige Vorgabe war der frühestmögliche Veröffentlichungszeitpunkt.
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