Kommentar: Ubuntu war noch nie so langweilig
Die Veröffentlichung von Ubuntu 15.04 Vivid Vervet hat eines noch deutlicher als zuvor gemacht: Der Desktop ist nicht mehr Canonicals Hauptanliegen, denn langweiliger geht es kaum noch. Wo will Canonical mit Ubuntu für den Desktop hin?
Unity als Alleingang einer Desktop-Umgebung stockt in seiner Entwicklung, ein innovativer Desktop wie GNOME – ob man ihn nun mag oder nicht – wird in Version 3.14 ausgeliefert, das vor mehr als einem halben Jahr veröffentlicht wurde. Und das bei einer Veröffentlichung ohne Langzeitsupport, wo nach Aussage von Mark Shuttleworth Experimente gewagt werden sollen. Dabei steht immer noch der konvergente Desktop als Vision groß auf Canonicals Fahnen. Von Vision oder Innovation ist allerdings derzeit bei Ubuntus Desktop nichts zu spüren.
Neuerungen Mangelware
Die einzige Neuerung, die wirklich einen Blick wert ist, ist Ubuntu-MATE, das erstmals offiziell mit dabei ist. Die Integration von Systemd lasse ich hier nicht als innovativ gelten, hier musste sich Canonical nur an Debian anhängen. Das soll nicht die Leistung von Entwickler Martin Pitt schmälern, der zusammen mit den Debian-Paketbetreuern sehr aktiv dem Umstieg den Weg geebnet hat, aber Canonical konnte kaum anders als jetzt umzusteigen, wollte man kompatibel bleiben und sich spätere zusätzliche Arbeit ersparen. Zudem spart man bereits jetzt Arbeit ein, da Upstart nicht mehr weiter entwickelt werden muss und vermutlich auch nicht mehr besonders lange gepflegt wird. Konnte man bei der Beta-Version zu Ubuntu 15.04, wenn auch versteckt, noch zwischen Systemd und Upstart wählen, so gibt es diese Freiheit bei der finalen Version nicht mehr. Das zeigt klar die Richtung an: Systemd oder stirb.
Kubuntu zeigt mit der Entscheidung zu Plasma 5.2 zwar Mut zur Innovation, aber die Entscheidungsgewalt darüber obliegt nicht mehr Canonical, seit man Kubuntu vor drei Jahren einfach vor die Tür setzte, weil man vermutlich der Ansicht war, es schade der Verbreitung von Ubuntu mit Unity.
Konvergenz über alles
Ubuntu-Alleingänge wie Unity und Mir stagnieren derweil in ihrer Entwicklung für den Desktopbereich, da hier die Entwicklungsziele vorerst auf Ubuntu Touch abgestimmt bleiben. Wann die beiden Eigenkreationen für den Desktop verfügbar sein werden, weiß niemand so genau. Davon jedoch hängt die einst vielbeschworene Konvergenz über alle Plattformen ab, von der man in letzter Zeit jedoch nicht mehr so viel hört. Ubuntu TV anyone?
Die ersten Ubuntu-Phones sind am Markt oder kurz davor und sollen künftig Geld in die Kasse spülen, bei Servern und in der Cloud verdient Canonical bereits gutes Geld. OpenStack wird mit Ubuntu auf Amazons Cloud mit weitem Vorsprung am häufigsten eingesetzt, Snappy Core ist ein innovativer Vorstoß ins Internet der Dinge, hier werden bei der rasanten Entwicklung Open-Source-Lösungen dringend benötigt, um Walled Gardens zu vermeiden.
Alles schön und gut, aber wenn darüber die Desktop-Anwender, die Ubuntu zur einst meistgenutzten Distribution machten und viele Nutzer erstmals mit Linux in Berührung brachten, vernachlässigt werden, beschädigt Canonical weiter seinen Ruf in der Szene, sofern das noch möglich ist.
Aber Moment doch mal, was schwappte denn da gestern Abend, nur Stunden nach einem langweiligen Release über die Newskanäle in unsere RSS-Feeds? Canonical will weg vom DEB-Format? Sind die denn wahnsinnig? Ein weiterer, diesmal die Grundfesten erschütternder Alleingang, der Ubuntu weiter von Debian entfernt als je zuvor? Zudem ein Vorstoß, der vom Arbeitspensum her riesig erscheint?
Doch noch Rettung in Sicht?
Was war geschehen? Der Ubuntu Desktop Manager Will Cooke stellte auf Google+ den noch weit entfernten Ubuntu-Desktop der Zukunft vor und dessen Pakete sollen nicht auf Debians DEB-Format basieren, sondern auf dem im Januar mit Ubuntu Snappy Core vorgestellten Snappy-Format. Diese sind wiederum eine Erweiterung des Click-Formats auf Ubuntu-Phone. Weitere Details gab es dann noch am Abend auf Reddit.
Also doch Hoffnung für Ubuntu am Desktop oder eine weitere Vaporware? Denn das Canonical bei Weitem nicht alles zu Ende führt, was großsprecherich angekündigt wird, ist ja hinlänglich bekannt. Interessant ist die Idee aber in jedem Fall, ob sie sich allerdings für eine Distribution mit tausenden Paketen umsetzen lässt, ist die große Frage. Der große Vorteil ist die sichere Art der Aktualisierung einer auf Snappy basierenden Distribution, die auf atomare Updates mit Rollback setzen wird. All das ist beherrschbar, CoreOS, Red Hat und andere machen es vor. Auch Fedora verkündete vor Wochen, mit Ausgabe 23 zumindest mit einer Variante auf atomare Updates umstellen zu wollen, allerdings mit RPM-OSTree als Technik im Hintergrund.
Altes neu verpackt
Neu ist das alles nicht, bei FreeBSD gibt es ZFS Rollback schon eine Weile, Distributionen wie NixOS und Bedrock bedienen experimentierfreudige Anwender schon seit den 90er Jahren mit ähnlicher Funktionalität. Um das aber bei Ubuntu konsequent umzusetzen, muss der gesamte File-Hierarchy-Standard über Bord geworfen werden. Das ist schon ein massives Stück Arbeit. Von daher darf bezweifelt werden, dass in den nächsten fünf Jahren davon etwas stabil beim Anwender ankommt, wenn überhaupt.
Interessant an der ganzen Entwicklung – nicht nur bei Ubuntu – ist, dass hier offenbar Ideen von Systemd-Mastermind Lennart Poettering zur Distribution der Zukunft aufgegriffen werden, die beim Erscheinen im letzten Herbst noch vielfach belächelt wurden.
Wo steht Ubuntu Desktop in fünf Jahren? Das kann, glaube ich, auch Canonical nicht genau sagen. Jedenfalls sollte sich Ubuntu nicht ganz vom DEB-Format abwenden. Wenn die Entwickler in der Lage sind, Snappy umzusetzen, würde Ubuntu aber endlich wieder neue Akzente für Linux am Desktop setzen.
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