Ich habe da leider keine eindeutige Ja- oder Nein-Meinung zu. Ich halte es für eine schwierige Frage. Das kann ich aber auch begründen.
Im Idealfall wäre es so, dass die User von sich aus keinen Bock haben auf proprietäre "Social" Media Apps (dazu zähle ich dann nicht nur Tiktok sondern auch Facebook, Instagram usw.). Wenn sie stattdessen dezentrale offene Netzwerke verwenden würden, wäre es schon mal eher ein Schritt in die richtige Richtung. Das tut aber die breite Masse aktuell noch nicht ausreichend genug. Und dann ist immer noch trotzdem das Problem da, dass man nicht zu viel von sich selbst preis geben sollte, da alle reingestellten Daten von irgendwem gescraped werden können und werden, egal welche Plattform es nun ist. Natürlich sind proprietäre Plattformen aber noch mal eine Größenordnung schlimmer, da sie auch noch viel mehr Daten als nur die von euch reingestellten analysiseren und weiterverwerten/weiterverkaufen können - z.B. auch alle Metadaten, Daten die die Apps über eure Geräte (Sensordaten, Location, Geräte und WiFis in der Nähe, Dateinamen, Geräte-IDs, Kontakte, Telefonnummern, IMEI, Modellinformationen, ...) und aus der Umgebung auslesen (freie Software tut das i.d.R. nicht), und vieles mehr. Alles landet praktischerweise direkt bei den Datenkraken, auf dem Silbertablett präsentiert. Also bei jeder Benutzung gebt ihr denen noch viel mehr Informationen mit, als ihr denkt. Die Apps enthalten auch oft mehrere Tracker und verhalten sich auf eurem Phone wie (aus irgendeinem Grund legale) Spyware. Das alles nur dafür, dass ihr teilnehmen könnt an einer Art sozialen Vernetzung, die aber gleichzeitig auch dafür bekannt ist, dass Menschen sich unwohler fühlen generell weil sie sich ständig mit anderen vergleichen und sich so fühlen, als müssten sie sich anders verhalten, als sie eigentlich sind. Und alles was ihr unter eurer Identität online stellt, kann natürlich auch von zukünftigen Personen jederzeit eingesehen werden (z.B. ist ein zukünftiger oder auch aktueller Arbeitgeber vielleicht nicht gerade über peinliche Party-Fotos/Videos von euch erfreut).
Das so zum grundsätzlichen Problem bei "Social" Networks. Natürlich haben sie auch Vorteile, aber wenn man welche benutzt, dann sollte man lieber keine proprietären Netzwerke verwenden, und am besten auch nur pseudonym und trotzdem mit möglichst viel Datensparsamkeit. Sonst nimmt man gleich sehr viele Nachteile auf einmal mit.
Dann kommt noch der Aspekt, der hier im Fall relevant ist: wer bekommt die Daten der User direkt zugespielt. Bei Tiktok ist das eine chinesische Firma, by extension also China. Bei fast allen anderen proprietären Social Networks sind das meistens US-Firmen, by extension also die US-Regierung, und da die EU ein großer Alliierter ist, und die FiveEyes-Geheimdienste regen Datenaustausch betreiben, fließen solche Daten auch nach Kanada, in die EU, nach UK sowieso als größter geheimdienstlicher Alliierter der USA, und nach Australien. Darüberhinaus hat die USA auch extrem versierte und ressourcenreiche geheimdienstliche Hacker, genauso wie auch China (bzw. jede Großmacht).
Es ist davon auszugehen (werde ich jetzt hier nicht weiter ausführen, bei USA sage ich nur Stichwort: Cloud Act, was geltendes Gesetz ist für alle US-Firmen) und bei China sage ich nur de facto autokratisches Regime was sowieso macht was es will. Daten, die ihr an US- oder China-Firmen anvertraut, landen also am Ende auch auf irgendeinem Weg bei der jeweiligen Regierung, entweder durch Regulierung oder durch Kauf/Miete. Denn Firmen können auch manchmal noch Extra-Geld verdienen, dass sie der Regierung die Daten kostenpflichtig zur Verfügung stellen. Google macht das z.B. stellenweise, nachdem sie durch die Snowden- Revelations damals herausgefunden hatten dass die NSA an deren ungesicherten Leitungen zwischen Google-Rechenzentren alles abschnrochelte. Da haben sie dann auch ihren Datenverkehr zwischen den RZs gesichert/verschlüsselt, so dass die NSA plötzlich nur noch Datenmüll hatte, und gleichzeitig haben sie denen gesagt "hey, wenn ihr die immer noch haben wollt, könnt ihr sie von uns kaufen". Es geht also nicht um euren Schutz. Es geht Firmen immer nur darum, mehr Geld zu machen. Das ist das einzige, was im Kapitalismus zählt.
Stellt sich also nur noch die Frage, wem vertraut ihr euren Daten-Berg lieber an: einer Regierung, die stark verbandelt mit der ist, unter der ihr aktuell lebt (USA im Falle der EU), oder einer, die fernab vom Schuss sitzt (China)?
Westliche Politiker würden wahrscheinlich fast alle sagen: China ist der schlimmere Fall. Weil autokratisches Regime, weil aktueller Staatsfeind Nr. 2 hinter Russland, und so weiter. Aber gehen wir mal vom Worst Case aus: der chinesische Geheimdienst hackt euer Gerät durch eine (initiale) Schwachstelle in Tiktok und installiert einen Pegasus-ähnlcihen Vollzugriff-auf-alles-Trojaner auf eurem Gerät, und gleichzeitig hackt euch auch noch der US-Geheimdienst durch eine (initiale) Schwachstelle in einer der anderen Apps (sagen wir einfach mal Instagram) und installiert auch noch so einen Vollzugriffs-Trojaner bei euch. Was ist für euch persönlich jetzt schlimmer? (Mal abgesehen davon, dass ihr beides generell nicht wollt). Ich behaupte jetzt einfach mal: solange ihr nicht vorhabt, einen Urlaub in China zu verbringen, ist für euch garantiert schlimmer, wenn die USA bzw. der Alliierte also die EU, alles über euch weiß, als wenn China das tut. China ist für euch nur dann eine (noch viel größere) Bedrohung, falls ihr mal in das Land reisen solltet und sie gleichzeitig alles über euch wissen, insbesondere wenn ihr mal China-kritisch wart. Weil ihr nur dann dem Regime direkt ausgesetzt seid. Ansonsten ist generell IMMER die Regierung unter der ihr aktuell lebt, die größte (theoretische) Bedrohung für euch. Denn eure ganzen Daten sind DIREKT relevant für diese Regierung und die Auswirkungen dieser Daten könnten euch DIREKT in eurem Privat- oder Berufsleben betreffen, könnten DIREKT in einer Geld- oder Freiheitsstrafe resultieren, und so weiter und so fort. Gegenüber einem weit entfernten ausländischen Regime seid ihr immer noch primär dadurch geschützt dass die gar keine direkte Gewalt über euch ausüben können, außer eure Daten zu stehlen, aber das können eure Alliierten auch und ihr könnt da genauso wenig gegen tun (außer, ihr benutzt solche Software nicht).
Bedenkt dabei auch, dass die Gesetzgebung in USA und EU immer dystopischer wird. Ja, wir genießen momentan noch viele Freiheiten gegenüber autokratischen Regimes. Aber die Gesetze werden immer faschistischer und dystopischer. In den USA gab's gerade erst einen Gesetzesentwurf, der der NSA erlauben würde, unter anderem Putzfrauen für Spionage- und Sabotage-/Hacking-Angriffe auf Firmen zu zweckentfremden, sozusagen als forcierte Geheimdienst-Komplizen. Stasi 2.0 also. Natürlich alles völlig legal dann, wenn sowas erst mal ein Gestz ist. China-Zustände sind also nicht weit entfernt, sondern manche unserer Politiker, Innenminister und Geheimdienste arbeiten aktiv daran, dass China-Zustände auch zu uns kommen, weil das denen eine unglaubliche Macht bescheren würde. Und dann besteht natürlich auch noch die Gefahr, dass mal ein extremes Regime auch bei uns regiert, weil es demokratisch so gewählt wurde. Eure Daten sind dann trotzdem immer noch frei verfügbar für das neue Regime.
Unter diesen Umständen sehe ich den Wunsch von westlichen Politikern, Tiktok zu bannen, deshalb immer als die Aussage: "Wir haben was dagegen, weil wir selbst nix oder nur wenig von diesen Daten haben, sondern primär nur derjenige, den wir aktuell als Staatsfeind Nr. 2 ansehen, und das finden wir total unfair".
Wenn's nach mir gehen würde, müsste konsequenterweise nicht nur Tiktok gebannt werden, sondern alle proprietären Social Networks. Also auch gleichzeitig bspw. Facebook und Instagram. Alles andere ist in meinen Augen Heuchlerei oder Doppelmoral. Wie man das auch nennen mag.
Ein weiteres Problem ist allerdings, selbst wenn man solche Apps bannt, gibt es trotzdem noch Wege sie zu nutzen. Es wird dann halt nur etwas umständlicher (Tor, VPN, ...). Insofern bringt ein Bann von Apps/Software auch nicht so viel, wie man vielleicht denkt. Solche Lösungen sprechen sich ja dann auch bei Non-Techie-Usern rum, wie sie dann doch wieder an ihr Tiktok etc. kommen können.
Vielleicht wäre es stattdessen also hilfreicher/besser(?), den Leuten viel mehr Medienkompetenz zu vermitteln, so dass sie dann vielleicht auch von selbst darauf kommen, dass die Nutzung solcher Apps sehr viele Nachteile hat, die die Vorteile vielleicht gar nicht wert sind.