Ich will zum Thema Freud antworten, weil seine Arbeiten als Schlüsselargument herangezogen werden. Ich sage nur, dass Freud nicht die Weisheit für sich gepachtet hat. Das wird durch die Aussagen von Psychoanalytikern deutlich, die aus anderen Kulturkreisen kommen und die eine völlig andere Auffassung vom Leben haben als Freud.
Man schaue sich das Interview des Inders Sudhir Kakar in der ZEIT vom 6. April 2005 an:
http://www.zeit.de/2005/15/st-kakarneu?page=1
Er erklärt, dass die Europäer den Körper als geschlossenes System verstehen, in dem sich alles Wichtige innerlich abspielt, wo „der Körper also eine Festung ist, die gelegentlich Zugbrücken nach außen herunterlässt“. Dementsprechend richtet sich die europäische Medizin an der Biologie aus. Die Inder dagegen sehen den Körper offen in Bezug auf seine „natürliche, soziale, spirituelle und kosmische Umwelt“. Der Körper und auch die Sexualität stehen fortwährend im Austausch mit den fünf Elementen Luft, Wasser, Erde, Feuer, Äther.
„Freud hat das Leben als von der Herkunft determiniert verstanden, Gandhi als von den spirituellen Zielen her. […] Sie haben verschiedene Antworten auf dieselbe Frage, die nach dem irdischen Unglück, gefunden.“
So ist auch der Umgang der Psychoanalytiker mit ihren Patienten grundsätzlich verschieden. Hier der auf neutrale Distanz bedachte Europäer, der genau auf die Uhr schaut, dort der zugewandte Guru, bei dem sich die Patienten wie Schüler unterordnen.
Auch die Grenzen eines Menschen zu seinen Mitmenschen werden je nach kulturellem Hintergrund anders verstanden und beschrieben. Als Beispiel wird Schopenhauers Igel-Parabel angeführt: „Die Igel nähern sich einander an, um Wärme zu finden, bis sie von den Stacheln des anderen abgewiesen werden und neu zu frieren beginnen.“ In Indien würde man die Schmerzen der Stacheln für die Wärme eher in Kauf nehmen. In Europa zieht man die Distanz vor und friert lieber.
Um endlich zum Thema zu kommen: Sudhir Kakar argumentiert, die Kultur Europas sei durch die „Geschlechterbilder der antiken Skulpturen geprägt“. Also durch Männer und männliche Götter, die mit Muskeln bepackt sind. Im Gegensatz dazu sieht er die traditionell indischen Körperabbildungen viel androgyner, sei es bei Buddha oder bei der Gottheit Shiva mit ihren zwei Geschlechtern.
Ich denke, das sollte man im Hinterkopf behalten. Das Rollenverständnis Freuds war nicht „objektiv“ (im Sinne von einzig wahr und richtig). Es gibt auch andere Sichtweisen, die nicht zwangläufig mehr, aber auch nicht weniger sinnvoll sein müssen, die aber womöglich zu anderen Schlussfolgerungen führen.
Das gilt auch in Bezug auf die Ehe. Solange in Indien 85 Prozent der Ehen arrangiert werden, vermute ich dort seltener eine Liebesbeziehung als in Westeuropa. Was bedeutet das für die Kinder, die in solchen arrangierten Beziehungen aufwachsen? Lieber unglücklich verheiratete, leibliche Eltern oder nicht doch lieber glückliches Homo-Adoptiveltern? Selbst der Stellenwert der Ehe ist in Indien ein anderer als in Deutschland, weil das verheiratete Paar in Indien hinter der Großfamilie zurücksteht. Das alles sind Einflussfaktoren, die sich zwischen beiden Kulturen sehr unterscheiden. Daher meine ich, dass man auf die Theorien Freuds nicht leichtfertig den Anspruch auf universelle Gültigkeit erheben sollte.
Siehe auch die beiden folgenden Zitate aus
http://www.zeit.de/2006/17/Aufmacher_Freud-Indien.xml:
Der indische Analytiker muss erkennen, dass einige psychoanalytische Vorstellungen von psychischer Reife, sozialem Verhalten, »positiven« oder »negativen« Lösungen von Entwicklungskonflikten und Komplexen (wie etwa dem Ödipuskomplex), die meist als universelle Wahrheiten daherkommen, tatsächlich Ausdruck von Erfahrungen und Wertbegriffen des europäischen Bürgertums sind.
Die Inder, genauer gesagt die Hindus, kennen eine ähnliche Formel – atmanam vidhi (»Erkenne dein Selbst«), doch das Selbst (atman) unterscheidet sich wesentlich von dem, was Sokrates darunter versteht. Es ist ein metaphysisches, kein biografisches Selbst, losgelöst von Zeit und Raum und daher ohne die lebensgeschichtliche Dimension, die der Kern der Psychoanalyse ist.
Die Debatte lässt sich ausdehnen, etwa auf Afrika (traditionelle Heiler), auf die Türke oder auf Arabien, wo die Psychoanalyse bei streng gläubigen muslimischen Frauen versagt. Bei Bedarf kann ich das weiter ausführen, um zu zeigen, dass Freud nicht die Lösung aller Probleme ist.