keshkau
Commodore
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Der nette Inder Kakar relativiert die Anwendbarkeit von Freuds Theorien dennoch:
Denn das „Rollenverständnis“ ist keineswegs so klar, eindeutig und unumstößlich. Für die bürgerliche Kleinfamilie mag das ja angehen mit Vater, Mutter und Kind.
In anderen Ländern sieht der gesellschaftliche Hintergrund womöglich anders aus. Nehmen wir das Beispiel Türkei, eine gespaltene Gesellschaft, wo sich Islamisten und säkularen Kräfte gegenüberstehen, dort vor allem Nationalisten und Liberale mit westlicher Orientierung.
Wer in Istanbul, Ankara oder Izmir zum Psychoanalytiker geht, ist westlich orientiert – und Muslim. Die männlichen Patienten ist praktisch durchweg beschnitten (Ödipus) und unterscheidet sich dadurch von dem Großteil der Patienten in Westeuropa. Der bedeutendere Unterschied liegt allerdings im Familienleben, weil die meisten türkischen Kinder in Großfamilien aufwachsen. Hat das etwas zu bedeuten? Ich denke schon. Denn während die Männer (tagsüber) arbeiten, ist das Haus voll von Tanten, Cousinen und Großmüttern, die sich um die Kinder kümmern und die eine Konkurrenz durchaus aus Ersatzmütter fungieren können (hier drängt sich mir der Vergleich zum lesbischen Adoptiveltern auf). Die leibliche Mutter muss sich nur besonders um eines ihrer Kinder kümmern (z. B. um das jüngste), schon können sich ihre anderen Kinder vernachlässigt fühlen und sich im Haushalt nach einer Ersatzmutter umsehen.
Das sind nun einmal andere Verhältnisse als in Deutschland, wo die Kleinfamilie sehr viel häufiger anzutreffen ist. Oder nehmen wir das Beispiel US-amerikanischer Südstaaten-Mütter, die sich eine farbige Nanny ins Haus holen. Auch hier kann die Mutter-Erfahrung zu einer dauerhaften Mütter-Erfahrung werden.
Wenn wir uns wieder der Türkei zuwenden, so kommen kulturelle Eigenheiten zum Tragen, die in Deutschland kaum noch eine Rolle spielen. Ich denke an Töchter aus wertkonservativen (traditionellen) Familien. Sie sind kurz gesagt reichlich „verklemmt“, nehmen sich eine Entjungferung vor der Ehe sehr zu Herzen, sprechen seltener offen über Sexualität.
Bei religiösen Fundamentalisten wiederum überstrahlt die Religion alles. Das eigene Verlangen, die Bedürfnisse oder das triebhafte Verhalten werden ihr untergeordnet. Vermutlich nicht therapierbare Fälle. Auffällig ist jedenfalls, dass man in der Türkei praktisch nur westlich orientierte Patienten erreicht, denen die Religion nicht übermäßig wichtig ist.
Oder schauen wir auf Gehad Mazarweh, der mit Folteropfern arbeitet und einräumt: „Wirklich heilen kann man solchen Menschen nicht. Wer einmal die Schmach einer Folter erlebt hat, wird damit sein Leben lang nicht fertig. Ich kann nur versuchen, ihnen eine Krücke anzubieten, mit der sie durch das Leben gehen können.“ - Herr Freud, da hätte ich jetzt aber mehr erwartet.
Mazarweh ist auch derjenige, der Probleme mit der Therapie streng gläubiger muslimischer Frauen hat. Seine Begründung ist, dass Jungen frühzeitig Privilegien erhalten, während man den Mädchen eintrichtert, dass die Familienehre von ihrer Jungfräulichkeit abhängt. Es sei einer solchen Frau z. B. nicht möglich, einem arabischen Psychoanalytiker zu offenbaren, dass sie sexuelle Fantasien habe. Er hält sie daher nicht für analytisch, aber zumindest für psychotherapeutisch behandelbar. Außerdem müsse man auf die (religiösen und) traditionellen Hintergründe Rücksicht nehmen, etwa hinsichtlich der meist streng verbotenen, aber durchaus praktizierten Beschneidung von Frauen.
Gehad Mazarweh behauptet von sich selbst, dass in seiner Arbeit immerhin noch 80 Prozent von Freud zur Anwendung komme („Die Lehre des Unbewussten verlasse ich nicht.“). Zur Traumdeutung sagt er hingehen, dass dies im arabisch-islamischen Raum ein eigener Beruf war, dass er vieles in Freuds Traumdeutung schon kannte und dass die Traumdeutung der Araber stärker differenziert sei.
Freud selbst hat sich mit „Totem und Tabu“ an „das Seelenleben der Wilden“ gewagt. Dort zeigt sich sehr schön das Problem. Die Psychoanalyse ist „in der philosophischen Tradition der Aufklärung verwurzelt“. Ihre individualistische Ausrichtung widerspricht fundamental dem afrikanischen Gedanken an Gemeinschaft, der sich in der Rolle der Clans und Stämme ablesen lässt. Die Psychoanalyse ist zudem antiklerikal, ganz im Gegensatz zu den okkulten Praktiken der Afrikaner.
Nach dem 2. Weltkrieg kam deshalb der Paradigmenwechsel. Es ging nunmehr weniger darum, die Verhaltensweisen der Afrikaner mit Hilfe psychoanalytischer Modelle zu interpretieren. Vielmehr begann die Psychoanalytiker zu lernen: Wer irre war, musste nicht zwangsläufig weggesperrt werden, Krankenpflege war unter Einbeziehung der Gemeinschaft möglich und traditionelle Heiler konnten mitarbeiten, auch wenn ein modernes Gesundheitssystem etabliert wurde. Bei all diesen Punkten kamen traditionelle, therapeutische Prinzipien zur Anwendung.
Im Senegal wurde 2005/2006 eine Studie durchgeführt, die besagt, dass 90 Prozent der psychiatrisch Kranken traditionelle Heiler aufsuchen. Die Psychoanalyse Freuds bekam dort kein Bein auf die Erde.
Aber das muss ja nicht heißen, dass schwule oder lesbische Paare in Deutschland deshalb keine Kinder adoptieren dürfen.
Daraus schlussfolgert er einen Anpassungsbedarf, der eben auch die Theorie betrifft. Darum ging es mir. Diesen Passus habe ich deshalb schon oben zitiert, nämlich dass „einige psychoanalytischen Vorstellungen […] tatsächlich Ausdruck von Erfahrungen und Wertbegriffen des europäischen Bürgertums sind“. Sie basieren damit, wie jede andere Theorie auch, auf bestimmten Modellannahmen (Prämissen, Einschränkungen).Ja, das traditionelle Indien ist in der Tat sehr anders. In Indien spielt die Großfamilie eine viel größere Rolle als die Kleinfamilie, Muttergöttinnen sind wichtiger als ein Vatergott, der Mensch gilt nicht als Individuum mit einer eigenen Persönlichkeit, sondern als inter- und transpersonales Geschöpf. Außerdem gibt es wesentliche Unterschiede zwischen dem traditionellen Indien und dem modernen Westen, was die Vorstellung von einem erfüllten Leben angeht.
Denn das „Rollenverständnis“ ist keineswegs so klar, eindeutig und unumstößlich. Für die bürgerliche Kleinfamilie mag das ja angehen mit Vater, Mutter und Kind.
In anderen Ländern sieht der gesellschaftliche Hintergrund womöglich anders aus. Nehmen wir das Beispiel Türkei, eine gespaltene Gesellschaft, wo sich Islamisten und säkularen Kräfte gegenüberstehen, dort vor allem Nationalisten und Liberale mit westlicher Orientierung.
Wer in Istanbul, Ankara oder Izmir zum Psychoanalytiker geht, ist westlich orientiert – und Muslim. Die männlichen Patienten ist praktisch durchweg beschnitten (Ödipus) und unterscheidet sich dadurch von dem Großteil der Patienten in Westeuropa. Der bedeutendere Unterschied liegt allerdings im Familienleben, weil die meisten türkischen Kinder in Großfamilien aufwachsen. Hat das etwas zu bedeuten? Ich denke schon. Denn während die Männer (tagsüber) arbeiten, ist das Haus voll von Tanten, Cousinen und Großmüttern, die sich um die Kinder kümmern und die eine Konkurrenz durchaus aus Ersatzmütter fungieren können (hier drängt sich mir der Vergleich zum lesbischen Adoptiveltern auf). Die leibliche Mutter muss sich nur besonders um eines ihrer Kinder kümmern (z. B. um das jüngste), schon können sich ihre anderen Kinder vernachlässigt fühlen und sich im Haushalt nach einer Ersatzmutter umsehen.
Das sind nun einmal andere Verhältnisse als in Deutschland, wo die Kleinfamilie sehr viel häufiger anzutreffen ist. Oder nehmen wir das Beispiel US-amerikanischer Südstaaten-Mütter, die sich eine farbige Nanny ins Haus holen. Auch hier kann die Mutter-Erfahrung zu einer dauerhaften Mütter-Erfahrung werden.
Wenn wir uns wieder der Türkei zuwenden, so kommen kulturelle Eigenheiten zum Tragen, die in Deutschland kaum noch eine Rolle spielen. Ich denke an Töchter aus wertkonservativen (traditionellen) Familien. Sie sind kurz gesagt reichlich „verklemmt“, nehmen sich eine Entjungferung vor der Ehe sehr zu Herzen, sprechen seltener offen über Sexualität.
Bei religiösen Fundamentalisten wiederum überstrahlt die Religion alles. Das eigene Verlangen, die Bedürfnisse oder das triebhafte Verhalten werden ihr untergeordnet. Vermutlich nicht therapierbare Fälle. Auffällig ist jedenfalls, dass man in der Türkei praktisch nur westlich orientierte Patienten erreicht, denen die Religion nicht übermäßig wichtig ist.
Oder schauen wir auf Gehad Mazarweh, der mit Folteropfern arbeitet und einräumt: „Wirklich heilen kann man solchen Menschen nicht. Wer einmal die Schmach einer Folter erlebt hat, wird damit sein Leben lang nicht fertig. Ich kann nur versuchen, ihnen eine Krücke anzubieten, mit der sie durch das Leben gehen können.“ - Herr Freud, da hätte ich jetzt aber mehr erwartet.
Mazarweh ist auch derjenige, der Probleme mit der Therapie streng gläubiger muslimischer Frauen hat. Seine Begründung ist, dass Jungen frühzeitig Privilegien erhalten, während man den Mädchen eintrichtert, dass die Familienehre von ihrer Jungfräulichkeit abhängt. Es sei einer solchen Frau z. B. nicht möglich, einem arabischen Psychoanalytiker zu offenbaren, dass sie sexuelle Fantasien habe. Er hält sie daher nicht für analytisch, aber zumindest für psychotherapeutisch behandelbar. Außerdem müsse man auf die (religiösen und) traditionellen Hintergründe Rücksicht nehmen, etwa hinsichtlich der meist streng verbotenen, aber durchaus praktizierten Beschneidung von Frauen.
Gehad Mazarweh behauptet von sich selbst, dass in seiner Arbeit immerhin noch 80 Prozent von Freud zur Anwendung komme („Die Lehre des Unbewussten verlasse ich nicht.“). Zur Traumdeutung sagt er hingehen, dass dies im arabisch-islamischen Raum ein eigener Beruf war, dass er vieles in Freuds Traumdeutung schon kannte und dass die Traumdeutung der Araber stärker differenziert sei.
Freud selbst hat sich mit „Totem und Tabu“ an „das Seelenleben der Wilden“ gewagt. Dort zeigt sich sehr schön das Problem. Die Psychoanalyse ist „in der philosophischen Tradition der Aufklärung verwurzelt“. Ihre individualistische Ausrichtung widerspricht fundamental dem afrikanischen Gedanken an Gemeinschaft, der sich in der Rolle der Clans und Stämme ablesen lässt. Die Psychoanalyse ist zudem antiklerikal, ganz im Gegensatz zu den okkulten Praktiken der Afrikaner.
Nach dem 2. Weltkrieg kam deshalb der Paradigmenwechsel. Es ging nunmehr weniger darum, die Verhaltensweisen der Afrikaner mit Hilfe psychoanalytischer Modelle zu interpretieren. Vielmehr begann die Psychoanalytiker zu lernen: Wer irre war, musste nicht zwangsläufig weggesperrt werden, Krankenpflege war unter Einbeziehung der Gemeinschaft möglich und traditionelle Heiler konnten mitarbeiten, auch wenn ein modernes Gesundheitssystem etabliert wurde. Bei all diesen Punkten kamen traditionelle, therapeutische Prinzipien zur Anwendung.
Im Senegal wurde 2005/2006 eine Studie durchgeführt, die besagt, dass 90 Prozent der psychiatrisch Kranken traditionelle Heiler aufsuchen. Die Psychoanalyse Freuds bekam dort kein Bein auf die Erde.
Aber das muss ja nicht heißen, dass schwule oder lesbische Paare in Deutschland deshalb keine Kinder adoptieren dürfen.