Valerus schrieb:
Es gibt auf diesem Bord zumindest einen User (mich), der die Aktivitäten der britischen, amerikanischen und deutschen Geheimdienste nicht als Bedrohung sieht, sondern sie sogar ausdrücklich begrüßt...
Du stehst sicherlich nicht allein mit deiner Meinung da, und ich sehe mich auch nicht in der Lage, behaupten zu können, du hättest völlig unrecht. Im Gegenteil, ich wünschte, alles wäre genau so, wie du es beschrieben hast.
Nur, ich weiß es schlichtweg nicht, und diese Unsicherheit wirkt tatsächlich lähmend* auf mich. Nicht vom ersten Tag der Enthüllungen an, aber mittlerweile.
Dabei ist mir persönlich kein hysterischer Artikel zu diesem Thema aufgefallen. Ich wäre sogar wesentlich beunruhigter, würde es jetzt niemand mehr wagen, aus Furcht vor Repressionen auch nur ein einziges kritisches Wort über diese Vorgänge zu verlieren. Die kurzen Berichte beispielsweise hier auf CB gefallen mir dagegen sehr gut.
Auch bei Ed Snowden kann ich bislang keine übertriebene Panikmache finden. Er wurde genauso zitiert, als er die USA als ein grundsätzlich "gutes Land" bezeichnete, was meinen eigenen beschränkten Erfahrungen entspricht.
Was er jedoch über seine Motive und Maxime äußerte, nämlich dass ein derart totalitärer Überwachungsapparat, ohne demokratische Diskussion und ohne transparente Kontrolle im Verborgenen errichtet, heute oder zukünftig unter einer anderen Regierung sich ebenso dazu eignet, Menschen- und Bürgerrechte irreversibel zu bedrohen und dass er konsequent seiner Gewissensentscheidung folgte, verlangt mir viel Respekt und Anerkennung ab.
Ich mache mir nichts vor: An seiner Stelle hätte ich sicherlich anders gehandelt und meine Verschwiegenheitserklärung nicht gebrochen. Dazu fehlt mir der Mut und die nötige Charakterstärke. Wenn mir nicht zufällig eine Art interne Verschwörergruppe aufgefallen wäre, die ihre dienstlichen Machtpositionen für eigene kriminelle Zwecke missbraucht - und selbst dann hätte ich zunächst wohl den Kontakt zu einem Vorgesetzten meines Vertrauens gesucht und ihm meine Informationen vorgelegt, hätte ich eher gekündigt und mich in meine Privatheit zurückgezogen, wenn meine Arbeit nicht länger mit meinem Gewissen zu vereinbaren gewesen wäre.
Bisher sieht es für mich danach aus, als habe Herr Snowden der Menschheit und unseren demokratischen Werten einen heute vielleicht noch unschätzbaren Dienst erwiesen, unter hohem persönlichen Risiko und Aufopferung seines saturierten Lebens. Dafür gönne ich ihm Asyl und auch den Friedenspreis in spe.
Nach einer ehrlichen Reform und bei echter demokratischer Transparenz und rechtsstaatlicher Kontrolle bräuchte es solche Vorbilder nicht mehr. Nur dann kann die Grenze zwischen Verrat und verantwortungsvollem Handeln im Sinne unserer unveräußerlichen Werte trennscharf definiert werden.
Vielleicht stimmst du mir aber an dem Punkt zu, wenn ich gleichzeitig daran denken muss, dass man möglichen feindseligen Stimmungen zwischen den Bevölkerungen entgegenwirken sollte, denn dies beförderte nur die Gefahr, Misstrauen und Überreaktionen noch zu verstärken. Historisch gesehen verdanken wir der Bevölkerung der USA sehr viel. Auch stehen wir uns kulturell und politisch näher, als manche sich eingestehen möchten. Die Menschen haben eigentlich ganz ähnliche Interessen und sind in vielfältiger Weise aufeinander angewiesen.
Die US-Regierung muss jedoch einsehen, dass wir hier keine Menschen zweiter Klasse sind und nur ohne verbindlichen Rechtsschutz und nur mit ihnen als eine Art Supergefängnisaufseher existieren dürfen.
*) Das alles sowie die desillusionierende Rolle unserer Regierung, die anscheinend niemanden von uns zu schützen bereit oder in der Lage wäre, bewirkt bei mir, dass ich mich tendenziell völlig in mein Offline-Privatleben zurückziehe.
Zuletzt vermochte ich nicht mehr, zu wählen, weil ich plötzlich nicht mehr wusste, wen.
Bei privater Kommunikation via Internet oder Telefon, wenn Menschen aus meinem Umfeld mit mir über Beziehungsprobleme, Erkrankungen oder andere intime Dinge sprechen möchten, muss ich inzwischen permanent daran denken, dass dies alles aufgezeichnet und missbraucht wird. Ich bitte sie dann immer häufiger um ein privates Treffen unter vier Augen. Eigentlich ein unerträglicher Zustand: Das ist bereits der Orwell-Staat.
Tor probierte ich vor längerer Zeit ein paar Mal aus, um Technik, Ping und Performance zu testen. Im Schutz der Kaskaden steuerte ich verschiedene Seiten wie z.B. Computer Base an, so wie jeden Tag auch ohne. Zuletzt versuchte ich, die legal zugängliche und extrem sehenswerte Southpark-Folge "The Royal Pudding" darüber anzuschauen. Aber fast alles ruckelte. Ruckeln ist noch schlimmer. Also habe ich's gelassen.
Ähnlich erging es mir in der Anfangszeit mit PGP und mit Stenografie. War neu, spannend und eine Weile angesagt im kleinen Tekkie-Kreis. Da ich leider über keine wirklich sensiblen Daten verfügte, stenografierte ich damals Cheats und Spielstände von Siedler II von Mitte der 90er.
Das Internet bedeutete mir viel. Es ist (noch) der letzte Ort für mich, wo ich mich direktdemokratisch engagieren, meine Meinung sagen und gelegentlich auch mal meine Empörung ausdrücken darf.
Ich will aber unter keinen Umständen als Bedrohung für irgendwen wahrgenommen werden. Trotz aller Kritik möchte nicht einmal amerikanische oder andere Gefühle verletzen. Eher schweige ich online für immer.
Was aber, wenn ich mich dennoch bereits verdächtig gemacht haben sollte?
Falls du diese Zeilen liest, meinst du, ich sollte dafür bereits als ein "Verfassungsfeind" eingestuft und bekämpft werden?
Selbst wenn nicht, mutmaße ich nach deinem Gesagten deine folgende Reaktion auf ein rein fiktives Szenario:
Angenommen, unsere Regierung versagt auch in Zukunft und schützt niemanden außer sich selbst und ihre Weisungsgeber.
Ich erfahre nicht mehr, warum genau, aber als Folge der heimlichen Überwachung werde ich plötzlich nachts verhaftet, in ein Geheimgefängnis verschleppt und verende dort unter geheimen Umständen. Ein Geheimgericht hätte dies genehmigt. Dennoch geht die Nachricht darüber kurz durch ein paar Medien. Der Regierungssprecher wird nebenbei auf den Fall angesprochen und pöbelt genervt ins Mikro, ich sei sicher nur ein Terrorist gewesen, der sein dreckiges Leben selbst beendete, und erklärt die Angelegenheit für beendet.
Sie grinsen sich zu und verlassen sich weiterhin auf die besinnungslose Gleichgültigkeit ihrer durchschnittlichen Untertanen.
Würdest du mit deiner gegenwärtigen Einstellung meinen Tod nicht ebenso freudig begrüßen? Du weißt nicht, wer ich war, versicherst dir jedoch weiterhin wie immer, dass alle beteiligten Geheimorganisationen aus hochanständigen Rechtsstaatlern bestehen. Wieder ein Böser weiger, denkst du vielleicht noch.
Am nächsten Morgen erscheinst du pünktlich und gut gelaunt zum Dienst. Erste Zweifel kommen dir erst, als du endlich deine verdiente Pension genießt - ach, was soll's, vergangen ist vergangen, niemand wird dich jetzt noch für irgendwas belangen und dir selbst geht es ja schließlich gut.
Fazit: Ich meine nicht wirklich dich als (eine mir unbekannte) Person, vielmehr einen gewissen gutgläubigen wie zweckdienlichen Geist als Metapher, da ich meine, auch eine ungefähre Vorstellung davon zu haben, wovon du zwischen den Zeilen womöglich sprichst.
Grundsätzlich halte ich mein gegebenes Wort, solange es sich mit meinem Gewissen vereinbaren lässt, weil ich diese Bindung einmal bewusst eingegangen bin und weiterhin dazu stehen will. Das hängt mit meiner Struktur und meiner Lebenseinstellung zusammen.
Es existieren jedoch höhere Ebenen in unserem Wertesystem, die, sollten sie von unserer Regierung und ihren Geheimdiensten schleichend und vorsätzlich zerstört werden, uns von allen nachrangigen Verpflichtungen entbinden, um Freiheit und Menschenrechte für unsere Nachkommen zu bewahren. Denn ohne diese Werte verkommt jede Herrschaft früher oder später zum Verbrechen. Das bilanziere ich vor allem auch aus der gehorsamen Dienstbeflissenheit und dem gutgläubigen Handeln meiner Vorfahren - ein wahrlich abschreckendes Beispiel fataler Inkompetenz und Naivität.
Edit: Typo