@th30
Das mit der deskriptiven Schreibweise hast Du richtig erkannt und dieser Umstand ist mir durchaus bewusst. Es gehört wohl zu meinem Stil, den ich zumindest hier im Forum bevorzuge, wenn ich Sachverhalte zu beschreiben versuche, die andere vielleicht nicht unbedingt im Visier haben (vgl. das Beispiel mit der Notengebung in Prüfungen). Wenn ich esoterisch-spirituell angehaucht wäre, könnte ich diese Vorgehensweise damit begründen, dass ich ein Waage-Mensch bin, der immer schön die Vor- und Nachteile gegeneinander abwägt.
Nehmen wir das erste Zitat, das Du von mir angeführt hast. Als ich zur Schule ging, wurde im Unterricht das Thema Wirtschaft oft und vergleichsweise intensiv behandelt. Mir wurde erklärt, wie Märkte funktionieren und das war durchaus nützlich und wichtig. Die Bedeutung erkennt man daran, dass den Menschen in Ostdeutschland nach der Wende genau solche Seminare angeboten wurden, um sie fit zu machen für das Leben in der Marktwirtschaft (Angebot, Nachfrage, Wettbewerb, Marketing, Versicherungen usw.). Meiner Meinung nach ist das nicht weiter verwunderlich. In den sog. sozialistischen Staaten wurden im Gegensatz dazu andere Schwerpunkte gesetzt. Da ging es primär um die Lehren des Marxismus. Die Begründung ist einfach: Die Menschen leben in ihren jeweiligen Systemen und sollen sich dort bestmöglich zurechtfinden. Dabei wird ihnen das System zugleich nähergebracht. Schließlich sollen sie sich damit identifizieren. Ich halte das jedoch nicht für einen Frevel nach dem Motto: „Wir verpassen den Schülern eine Gehirnwäsche, damit sie parieren.“
Denn es kommt hinzu, dass ich in der Schule auch etwas über die Lehren von Marx & Co. gelernt habe. Das wurde ja nicht ausgeklammert, sondern durchaus unter die Lupe genommen. Da man den Schülern aber nicht alles beibringen kann in der Kürze der Zeit, beschränkt man sich auf das, was für ihr konkretes Leben die höchste Relevanz hat.
In unserem System habe ich trotz allem die Möglichkeit, mich auf eigene Faust oder zusammen mit anderen jedem erdenklichen Thema zu widmen. Die Menschen in China können das z. B. nicht. Da stehen bestimmte Bücher schlichtweg nicht in den Bibliotheken und das Internet wird zensiert. Das ist bei uns zum Glück anders. Und deshalb ist es weitaus weniger problematisch, wenn man das eigene System z. B. in der Schule in den Vordergrund rückt und andere Systeme entsprechend weniger intensiv darlegt.
Nun zum zweiten Zitat über die Euphemismen. Wenn ich z. B. schreibe, dass Soldaten im Krieg nicht immer nur durch schmerzlosen Kopfschuss sterben, sondern ebenso gut zwei Tage lang mit einem Bauchschuss im Stacheldraht hängen können, um qualvoll zu verrecken, dann ist das wohl leider die Realität. – Ich mache der Regierung dennoch keinen Vorwurf, wenn sie bei diesem Thema anders argumentiert, wenn sie von der Verteidigung des Vaterlandes spricht, von Helden, Ehre usw. Denn das ist ihr gutes Recht, zumal es die jungen Männer ohnehin selbst viel besser wissen – den Kriegsfilmen sei Dank. Der Versuch, die Menschen auf seine Seite zu ziehen, ist ja nicht strafbar oder verwerflich. Denn jeder hat mehr oder weniger gute Gründe für sein Handeln. Die Engländer hatten im 2. Weltkrieg eben keine Lust, von den Nazis überrannt zu werden. Also haben sie ihre Söhne in den Krieg geschickt, was durchaus nachvollziehbar war.
Es genügt mir daher, auf den Mechanismus aufmerksam zu machen. Wenn man seinen eigenen Verstand gebraucht, was ja unsere Pflicht sein sollte, dann durchschaut man die Praktiken (der Mächtigen) ohnehin schnell. Auch ein Herr Schäuble versucht im Moment durch seine Reden, Interviews und Statements, seine Meinung unter das Volk zu bringen. Aber trotz hoher Medienpräsenz erntet er längst nicht nur Beifall, sondern beinharte Kritik. Die Nutzung der Medien allein reicht also längst nicht aus, wenn dahinter keine guten Argumente stehen. Ebenso wenig sind die Bürger auf nur eine Handvoll Informationsquellen angewiesen. Es gibt zahlreiche Zeitungen, Zeitschriften und Internetauftritte, die praktisch jede erdenkliche Position vertreten. Damit kann man sich problemlos über die jeweiligen Argumente der Gegenseite informieren.
Gerade für die Politik ist es schwierig, mit den Menschen im Land zu kommunizieren. Zum einen wurden sie gewählt, um für die Leute Gutes zu tun. Zum anderen sieht der einzelne Bürger überwiegend nur sich selbst (Nutzenmaximierung) und nicht das Gemeinwohl. Und da steht man z. B. vor dem Problem, dass in 30 Jahren die geburtenstarke Jahrgänge in Rente gegangen sind und die Jüngeren zur Kasse gebeten werden müssen. Das wird denen aller Voraussicht nach nicht in den Kram passen. Aber was soll man als Politiker machen? Die Sachlage erfordert bestimmte Entscheidungen, die für viele Menschen unangenehm sind. Aberwenn man schon nicht auf eine sofortige Einsicht hoffen kann, versucht man wenigstens, den Leuten ein wenig Honig um den Mund zu schmieren.
Unser th30 sähe es sicher gerne, wenn ich in diesem Zusammenhang Friedrich August von Hayek zitieren würde, z. B. aus „Der Weg zur Knechtschaft“ (The Road to Serfdom):
“Der effektivste Weg, Menschen dazu zu bringen, die Gültigkeit der Werte, denen sie dienen sollen, zu akzeptieren, ist, sie zu überzeugen, dass es sich dabei in Wirklichkeit um exakt diejenigen Werte handelt, die sie - oder zumindest die Besten unter ihnen - immer hochgehalten haben, aber die früher nicht richtig verstanden und erkannt worden sind. ( … ) Die effizienteste Technik, das zu bewerkstelligen, ist, althergebrachte Worte zu benutzen, aber deren Bedeutung zu verändern. Nur ganz wenige Züge totalitärer Regimes sind gleichzeitig so verwirrend für den oberflächlichen Betrachter wie auch charakteristisch für das gesamte intellektuelle Klima wie die komplette Perversion der Sprache, die Veränderung der Bedeutung von Worten, mit denen die Ideale des neuen Regimes ausgedrückt werden. ( … ) Schritt für Schritt, wie dieser Prozess vonstatten geht, wird die gesamte Sprache geplündert, werden Worte zu leeren Hüllen ohne jegliche definierte Bedeutung mit der Fähigkeit, etwas in sein exaktes Gegenteil zu verkehren und einzig und allein nur noch dazu gebraucht, um die emotionalen Assoziationen hervorzurufen, die ihnen immer noch anhaften.”
Nun noch kurz zum Egoismus. Meiner Einschätzung nach ist der Mensch leider tatsächlich so gestrickt, wie ich es beschrieben habe. Kleine Kommunen (vor allem Familien oder der engere Freundeskreis) bilden zwar Ausnahmen. Aber sobald die Masse an Menschen und damit die Anonymität zunimmt, breitet sich der Egoismus verstärkt aus. Auf dem Dorf grüßen sich die Leute fast alle, weil man sein Gegenüber zumindest vom Sehen her kennt. In der U-Bahn oder auf den belebten Einkaufsstraßen der Großstädte macht das niemand mehr. Man käme außer zum Grüßen ja zu nichts anderem mehr.
Wenn ich tatsächlich im Überfluss lebe oder wenn der Metzger am Abend noch Frischwurst übrig hat, die er am nächsten Tag ohnehin nicht mehr verkaufen kann, dann macht es ihm auch nichts aus, wenn er seine restliche Ware an die sog. Tafeln spendet, weil die Menschen dort ohnehin nicht zu seinen Kunden zählen. Er verliert also nichts dabei. Und wenn Michael Schumacher 10 Mio. Euro für die Tsunami-Opfer gespendet hat, dann hat er vielleicht ein großes Herz. Andererseits können ihm 10 Mio. Euro auch egal sein, weil er im Überfluss lebt.
Der selbstlose „neue Mensch“, der auch für den Kommunismus gebraucht wird, halte ich für eine Utopie, weil er nur in Kleingruppen hervorgebracht werden kann, und auch dann nur, wenn diese Gruppe gegenüber der Außenwelt relativ abgeschottet ist (Kibbuz vielleicht).
Wenn ich mich so umschaue, bei mir oder bei anderen, dann besitzen wir alle Dinge im Überfluss. Das können mehrere Armbanduhren sein, ein Zweit-TV oder ein Zweit-Rechner, selbst die bereits gelesene Zeitschriften, die wir achtlos zum Altpapier geben, könnten von anderen noch gelesen werden. Trotzdem kommen die meisten Menschen ganz sicher nicht auf die Idee, ihre überflüssigen Sachen beim Roten Kreuz abzugeben. Man verschenkt sie höchstens im Bekanntenkreis oder unter Freunden.
Der Grund dafür ist nicht unbedingt „Haste was, dann biste was“, sondern vielleicht eher das gute Gefühl der Wahlfreiheit. Wenn man drei oder vier Winterjacken hat, dann kann man eben gut variieren, seine Look ändern, so wie das andere mit ihrer Frisur machen. Es gehört zur Lebensqualität.
Und da ist das hungernde Kind in Bangladesch nun einmal ziemlich weit weg. Die Menschen spenden zu Weihnachten vielleicht einmal 50 Euro, weil sie sich damit besser fühlen. Aber damit sehen sie ihre Schuldigkeit auch schon als getan an. Das Thema ist abgehakt. Und niemand fragt ernsthaft danach, wie es zwei Jahre später in der Region aussieht, ob die Schulen und Krankenhäuser wieder in Betrieb sind usw. – Dafür gibt es schließlich die Hilfsorganisationen und die Entwicklungshilfe. Die „Verantwortung“ wird delegiert und wir finden uns sehr wohl mit den Verhältnissen ab, weil wir zu den Gewinnern gehören. Ich denke, so ticken die meisten.