OldboyX schrieb:
Ich sehe nicht, wie ChatGPT bei irgendwelchen Prüfungen eine Rolle spielen sollte.
Vor-Ort-Prüfungen werden natürlich weiterhin unter der üblichen Kontrolle stehen. Es geht im Grunde um (fast) alles, was zu Hause abzuarbeiten ist. Das reicht von der klassischen Hausarbeit bis hin zur Bearbeitung von Büchern oder kleineren Textausgaben, die, so lange sie auf "Standardwissen" aufbauen, sehr leicht durch KI in eine fertige Form gebracht werden können.
Man darf sich hier natürlich nicht täuschen. Die Möglichkeit des Betrugs gab es auch schon vorher. Was aber zu denken gibt, ist, dass die Hemmschwellen zum Missbrauch immer niedriger werden, da KI nun direkter Begleiter im Rechercheprozess wird (diesem eigentlich sogar vorgeschaltet wird) und nicht einfach nur potenzielle Quellen auswirft, die man selber durchforsten muss. Da liegt es nahe, auch Teile der kritischen Auseinandersetzung mit den Texten vorwegnehmen zu lassen. Es ist wie so oft also auch eine Frage der Disziplin, keine Abkürzungen zu nehmen.
Ich befürchte, dass auf universitärem Niveau vor allem diejenigen Fachrichtungen an Schreibkompetenz einbüßen werden, bei denen die Schreibarbeit nicht obligatorischer Teil des Studiums ist. Der Biochemiker oder Informatiker, der seine Ergebnisse formulieren soll, wird noch weniger Anreize sehen, ein Schreibcoaching in Anspruch zu nehmen, wenn er die Aufgabe derart komfortabel an KI auslagern kann. Das, was im ersten Moment als Stütze dient, kann auf kurz oder lang dazu führen, dass wir uns auf einer weiteren Ebene von solchen Technologien abhängig machen.
OldboyX schrieb:
Es gibt keine digital natives
Pardon! Dann ist das tatsächlich der falsche Begriff.
Was ich meine ist, dass ältere Generationen meiner Erfahrung nach tendenziell höhere Abneigungen haben, ihre Methoden umzuwerfen und sich mit neueren Technologien auseinanderzusetzen. Das trifft in meinem Umfeld durchaus zu, heißt aber natürlich nicht zwangsweise, dass jüngere Menschen, denen hier tatsächlich sogar die kritische Distanz fehlt, durch das Bedienen von Interfaces automatisch kompetent werden.
OldboyX schrieb:
Willkür und Subjektivität machen übrigens auch die Sache mit dem Beurteilen von Gedankengängen oder diskursiven Fähigkeiten so problematisch
Die Bewertung ist schwieriger, das stimmt, aber nicht unmöglich. Am anderen Ende werden schriftliche Arbeiten, die zu Hause angefertigt werden, durch den Mangel an Nachweisbarkeit aber ebenfalls ein Stück schwerer belastbar.
Daraus dann zu schließen, dass Klausuren und Tests vor Ort nach den "harten" Kriterien das Maß der Dinge sein, fände ich jedenfalls schade.
Die Frage ist ja letztlich auch, wie man die relevanten Kompetenzen der Zukunft (siehe etwa "21st Century Skills" bzw. "Future Skills"), die ja insbesondere digitalen Kontext haben, sicherstellen und in die alten Schemata integrieren möchte. Von den harten Fachkenntnissen in technischen Bereichen mal abgesehen, zählen dazu auch viele weiche Faktoren, die sich nur schwer in ein starres, faires Bewertungsraster bringen lassen. Dass diese Kriterien überhaupt gesehen und als wichtig erachtet werden, ist auch noch mal ein Problem für sich. In so fern ist es gar nicht schlecht, dass Neuerungen wie ChatGPT die Diskurse noch einmal grundsätzlich anregen und die eigentlichen Ziele der Lehre hinterfragt werden.