Onkelhitman schrieb:
Ob er es sich selbst zuzuschreiben hat, oder ob er dahin gelenkt wird ohne Pilot wissen wir nicht, dazu ist das zu sehr verflochten.
Mit diskursanalytischen Methoden kann man jedoch wenigstens zu einer Ahnung kommen, statt es nur mit "kann man nicht sicher sagen" zu kommentieren. Sogar Talkshows kann man als Gruppendiskussion auswerten und dabei z.B. non-verbale Signale oder Machtpositionen entdecken, die auf den ersten Blick garnicht so wirken. Man könnte Sarrazins Bücher in einen Diskurs eingebettet betrachten, und dabei herausfinden, wessen Positionen er eigentlich vertritt, für welche Diskursfiguren diese Positionen stehen und welche diskursinternen Machtmechanismen er nutzt (vllt. nur implizit oder gar unbewusst).
Am Ende könnte man zu der Schlussfolgerung kommen, dass es Sarrazin selbst gewesen ist, der sich in diese Ecke gedrängt hat oder hat drängen lassen.
Z.B. durch die Vermarktung seiner Person als Tabubrecher - das schiebt dem Kritiker automatisch den moralischen schwarzen Peter zu - denn Tabus sind schlecht, wodurch ein Tabubruch etwas grundsätzlich gutes ist - da kann man den Tabubrecher doch nicht für verurteilen. Sogesehen führt ein Mensch, der sich selbst als Tabubrecher bezeichnet einen Präventivschlag gegen potenzielle Kritiker.
Durch Foucault weiß ich, dass es letztlich die Unvereinbarkeit des Männlichkeitsbildes mit der Penetration (nicht nur im sexuellen Sinne) bei algriechischen Philosophen gewesen ist, die auf großen Umwegen und mit viel Rationalisierungshilfe aus einzelnen Wissenschaftsdisziplinen erst zu einer moralischen Diffamierung der Homosexualität, zu ihrer Definition als Straftat (im 17. Jhdt. wurden die sog. "Sodomisten" staatlich umgebracht) mit entsprechenden Sodomie-Gesetzen (deren Wortlaut uns in späterer "Schwulengesetzgebung" wieder begegnet), bis hin zu der wissenschaftlich absicherbaren Erkenntnis, dass Homosexualität eine psychische Krankheit sei (die lange Zeit fester bestandteil des DSM gewesen ist - mittlerweile ist sie es nicht mehr), geführt hat.
Letzter mir bekannter Auswuchs dieser Kette sind ernstgemeinte Versuche ein "Schwulen-Gen" zu finden.
Und ursprünglich haben sich nur ein paar alte Männer überlegt, ob es noch als männlich gelten könne, wenn ein Mann es zullässt, dass er penetriert wird, oder ob er dadurch weichliches und damit "weibisches" Verhalten zeige. Es ging dabei nicht um den Untergang von Imperien, den Tod von Königen oder Feldherrn, einigen Autoren ging es wohl eher um eine Verteidigung der "Knabenliebe". Allerdings gibt es dennoch genug Stellen im Diskurs, an denen der Homosexualität gerade zu magischen Kräfte zugesprochen wurden. War der König Hetero, konnte es viele Gründe für ein Scheitern geben, war er hingegen Homo so konnte es für einige Historiker nur noch diesen einen Grund geben - da konnte der Mann ein Gewohnheitssäufer mit negativem politischem Talent und schwacher Körperkonstitution sein, das alles hat sein Leben und Reich nicht so gefährdet, wie seine abweichlerische Sexualität.
Bei einem Hetero liegt die Niederlage in einer Schlacht an der Disposition, dem Wetter, der Mannschaft, den Waffen, der Munition oder der taktischen Überlegenheit des Gegners - aber bei einem Schwulen ist das einfach Gottes Strafe gewesen? Als könnte die (abweichende) sexuelle Orientierung physikalische Gesetze aushebeln (als Beispiel).
"Gott" (aka Kirche) hat sogar schon mit der Apokalypse gedroht, sollte man an der Schwulengesetzgebung irgendwas lockern wollen, oder mit der ewigen Verdammnis, wenn man sich auch nur in Gedanken homosexuellen Handlungen hingibt (sowas sollte man lieber schnell beichten, damit Mutter-Kirche wenigstens schonmal bescheidweiß).
Ich habe es natürlich stark gekürzt und es spielen noch viele andere Faktoren mit hinein - z.B. die im Zuge der industrialisierung notwendig gewordene Generation großer Arbeitermassen (Kinder kommen eben doch nur bei gleichgeschlechtlichem Sex raus), oder großer Söldner-Heere aus "harten Jungs" - Männlichkeitsbild-Pflege Ahoi. Ausserdem gab es noch einen teilweise medial hervorgerufenen oder verstärkten Ekel vor Homosexuellen - naja, normal war das für die meisten Menschen eben nicht - eher krankhaft, besonders wenn Psychologen, Theologen, Päpste und Sexualwissenschaftler einen regelmäßig in diesem Ekel bestätigen.
Diskursanalyse kann in diesem Fall den christlich-pseudo-wissenschaftlichen Moralnebel etwas lichten, und findet dann heraus, dass die Schwulengesetze vor allem davon ihre Macht bezogen haben, dass Psychologen mit gefestigten christlichen (eigentlich nur kirchlichen) Idealen ein Standard-Gehirn zu konstruieren versuchten welches in gesundem Zustand eben nur heterosexuell sein kann. Das hat weniger damit zu tun ob Heterosexualität tatsächlich "gesünder" oder normaler ist, es hängt nur an tief sitzenden Moralvorstellungen die keine andere Meinung zugelasen haben - das bisschen Wissenschaft brauchte man scheinbar erst, als die alten Legitimationsfiguren (Gottes Wille und Wort) nicht mehr so recht funktionieren wollten.
Foucaults Methode hat was - ist aber den meisten Leuten etwas zu aufwendig, und die Ergebnisse sind auch oft etwas unbequem. Wahrscheinlich hat er deswegen von eingen Disziplinen die Position der persona non grata zugewiesen bekommen.
Zurück zum Sarrazin-Tabu:
Die Themen werden diskutiert, allerdings nicht in den (Massen)Medien sondern in Fachzeitschriften, Uni-Seminaren oder auf internationalen Fachtagungen.
Der Vergleich zwischen einer wissenschaftlich geführten Diskussion um ein Thema, und der medial aufbereiteten Version zeigt oft haarsträubende Unterschiede (bei fast jedem Thema). Und zwar nicht nur in den Inhalten, die Disklutiert werden, sondern auch in der art, wie diskutiert wird.
Auch wissenschaftliche Debattten haben eine emotionale Komponente, aber die ist nur dann Teil der Diskussion, wenn es sich nicht vermeiden lässt - die emotionale Komponente also so mächtig ist, dass eine thematische Behandlung ohne ihre Reflexion nichtmal ansatzweise komplett wäre, z.B. weil es im historischen Diskurs regelmäßig zu Brüchen gekommen ist, wenn sich irgend eine Moral-Facette verändert hat, und allmählich andere Emotionen zu verarbeiten/berücksichtigen waren.
Da es in den Medien vor allem um den Absatz der Programme geht (Einschaltquoten, Auflagen, Klicks - insg. Einnahmen), ist es für Medienmacher (verständlicher Weise) wichtiger, Programme zu gestalten, die vom Kunden angenommen werden (dabei geht es um den verdammten Job).
Die Diskussionsrunde mit Intellektuellen, die sich in einer Fachsprache, die kaum jemand versteht über Themen austauschen, deren Sinn die meisten Zuschauer/Leser nichtmal ansatzweise erfassen, ist da wohl etwas unattraktiv, und sogar thematisch nicht der Bringer.
Und das ist mMn der einzige Grund, warum Sarrazins Thesen öffentlich nicht wirklich diskutiert wurden obwohl sie in der Wissenschaftscommunity ganz schnell als das erkannt wurden, was sie sind: Ein alter Hut mit neuen Zahlen vorgetragen in etwas altbackenem Vokabular.