Im Gegensatz dazu gibt es aus der Islamwissenschaft scharfe Kritik an der Verwendung des Begriffs „Islamismus“ zur Bezeichnung von fundamentalistischen, extremistischen und sogar terroristischen Bewegungen. So erklärte Thomas Bauer, Professor für Arabistik und Islamwissenschaft an der Universität Münster, er lehne den Begriff ab. Es sei unmöglich, Mursi und Terrorgruppen in Mali „unter einen Begriff zu fassen“. Tilman Seidensticker, Professor für Islamwissenschaft an der Uni Jena, definiert den Islamismus – ohne eine direkte Extremismus-Komponente – als „Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden.“[4] Muriel Asseburg, Senior Fellow der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten der Stiftung Wissenschaft und Politik schreibt, es werde oft unterstellt, dass Islamisten automatisch Fundamentalisten seien oder eine radikale Ausrichtung hätten. Die Wirklichkeit sei komplexer, da viele islamistische Gruppierungen nicht gewaltbereit seien bzw. der Gewalt abgeschworen hätten, sich pragmatisch und anpassungsfähig zeigten, anstatt das bestehende System umstürzen zu wollen.[5]
Der Islamwissenschaftler Tilman Nagel (* 1942) vertrat 2005 in seinem Essay Islam oder Islamismus? Probleme einer Grenzziehung die Meinung, eine Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus sei „ohne Erkenntniswert“.[6] „Islam und Islamismus sind solange nicht voneinander zu trennen, wie Koran und Sunna als absolut und für alle Zeiten wahr ausgegeben werden“, so Nagel. Er verwendet das Wort „Islamismus“ und setzt in seiner Argumentation den Begriff letzten Endes mit dem orthodoxen Islam gleich. Nagel argumentiert, der Islam sei von Hause aus – mit Ausnahme der Muʿtazila – fundamentalistisch.[7] Der Islam richte sich nicht wie das Christentum in einem bestehenden Staat ein, sondern gründe „einen eigenen“. Historisch führt Nagel dies auf die frühislamische Gemeinde unter Mohammed zurück, dessen Wirken Nagel zufolge „von Anfang an ein entschiedenes Streben nach Dominanz über alle anderen Menschenverbände“ innewohnte, weil es sich „als unerschütterbar wahr und endgültig richtig auffasste. Die Anwendung von Gewalt zur Selbstbehauptung und dann zur Unterwerfung anderer Gemeinschaften, die eben nicht islamische waren, ist demgemäß ein wesentliches, wenn nicht das wesentliche Merkmal der Geschichte des Wirkens Mohammeds in Medina.“[8]
Quelle:
https://de.wikipedia.org/wiki/Islamismus#Definitionen_und_Begriffskritik