xxlrider schrieb:
Man hört immer wieder das der "Lockdown" jeder statistischen Grundlage entbehrt. Wie seht ihr das ?
Anders.
Aber ja, ich höre das auch immer wieder. Erklärungen für diese Schlussfolgerung werden nur selten bis nie mitgeliefert.
Blackland schrieb:
Wir haben die Zahlen aus -D- und noch immer soll darüber (neu) diskutiert werden, ob es (hier) sinnvoll war oder nicht.
Ich weiß nicht, ob wir das tatsächlich neu diskutieren müssen. Meiner Meinung nach ist die Sache mit hinreichender Bestimmtheit erledigt. Ich kann mich natürlich täuschen, daher wiederhole ich nochmal die Begründung, die meiner Ansicht zugrunde liegt. Es ist ausdrücklich erwünscht, diese inhaltlich zu kritisieren – evtl. muss ich meine Meinung dann ändern. Umgekehrt sollte jedem klar sein, dass ein plumpes „alles Quark was du schreibst“ ohne weitergehende Erklärung wenig Überzeugungskraft entfaltet.
1) Entscheidend für die Ausbreitung einer Infektionskrankheit ist die Veränderung der Generationsgröße.
a) Gehen aus einer Generation Infizierter dauerhaft größere Generationen hervor, so wächst die Anzahl der gleichzeitig Infizierten, bis nicht mehr genügend vulnerable Personen zur Verfügung stehen.
b) Gehen aus einer Generation Infizierter dauerhaft gleich große Nachfolgegenerationen hervor, so ist die Anzahl der täglich neu zur Menge der Infizierten hinzugekommenen Personen nach `ner Weile genauso groß wie die Anzahl derer, die diese Menge auf die eine oder andere Art verlassen. Die Anzahl der gleichzeitig Infizierten bleibt dann konstant. (So ein Beispiel hat
goodnight in Post #7083 präsentiert.)
c) Gehen aus einer Generation Infizierter dauerhaft kleinere Nachfolgegenerationen hervor, so werden täglich weniger Neuinfektionen „nachgeliefert“ als Altinfektionen die Menge der gleichzeitig Infizierten verlassen. Die Anzahl der gleichzeitig Infizierten nimmt ab.
Tut man gar nichts, so läuft die Reihenfolge a) – c) natürlich nacheinander ab. Nur braucht’s halt allein für den Eintritt in b) schon einen substanziellen Anteil der Bevölkerung, die bereits infiziert waren. (Will sagen: Nur weil 5 % o.ä. der Bevölkerung wegen überstandener Infektion nicht mehr zur Gruppe der Vulnerablen gehören ist nicht mit einer nennenswerten Verlangsamung der Ausbreitung zu rechnen. Bei 50 % sieht die Sache schon anders aus.)
2) Auf individueller Ebene wird die Generationengröße dadurch beeinflusst, wie viele Personen eine gerade infektiöse Person durchschnittlich ansteckt. Dies ist die Reproduktionszahl R.
Für R gilt näherungsweise: R = N*p, wobei N die durchschnittliche Anzahl an Kontakten während der infektiösen Zeit ist und p die Wahrscheinlichkeit, bei einem Kontakt eine vulnerable Person anzustecken.
Klar, das ist eine Näherung und für die Realität ist das allein zu grob. Aber: Wenn ein Durchschnittstyp plötzlich zum Einsiedler mutiert (N = 0), dann tut er sich unabhängig von der Infektionswahrscheinlichkeit echt schwer noch die ~2,5 Personen anzustecken die man für COVID-19 gemessen zu haben glaubt.
Mutiert unser Durchschnittstyp plötzlich zum Feierbiest und hinterlässt bei den Singles seiner Stadt verbrannte Erde, feiert riesige Orgien, wird also N sehr groß (und p), so liegt es nahe, dass unser Durchschnittstyp vermutlich mehr als die ~2,5 Personen ansteckt.
Kurz: Wer zu mehr Personen (engeren) Kontakt hat, wird vermutlich auch mehr Personen anstecken, sollte er selbst infektiös sein. Das ist keine Rocket Science und ich habe noch keine Erklärung dafür gelesen, warum das anders sein sollte. Unsere Kontaktbeschränkungen und Distanzregeln greifen überdies N und p an. (Superspreading-Events wie der Karneval in Heinsberg oder das Starkbierfest in Tirschenreuth legen allerdings nahe, dass das wohl auch in der Realität so ist.)
3) Die Hypothese ist also: „Die durchschnittliche Anzahl an Kontakten einer Bevölkerung hat einen Einfluss auf die Reproduktionsrate R.“
Wie könnte man diese Hypothese falsifizieren? Antwort: Man überprüft, ob die berechnete Entwicklung von R mit der gemessenen Entwicklung der Kontakte einhergeht – oder eben nicht. Dies habe ich in
Post #6940 versucht. Dabei gehe ich davon aus, dass eine Bevölkerung, die deutlich seltener die Arbeitsstätte, Cafés, Restaurants, Bars oder Orte des öffentlichen Nahverkehrs aufsucht, eben eine Bevölkerung ist, die weniger Kontakte hat als normalerweise. (Man kann natürlich davon ausgehen, dass die Annahme Schmarrn ist, weil es wahrscheinlicher ist, dass alle plötzlich angefangen haben, ihre Handys daheim zu lassen.)
Und da sieht man: Die gemessene Abnahme der Mobilität (N wird kleiner) und der – meines Wissens nach davon unabhängig – berechnete Verlauf von R gehen Hand in Hand.
Die Hypothese kann damit nicht als falsch zurückgewiesen werden.
Also muss man sich weitere Szenarien überlegen, anhand derer man versuchen kann, die Hypothese zu falsifizieren. Der Blick ins Ausland drängt sich an der Stelle eben auf. Es kann ja sein, dass der Zusammenhang aus Post #6940 ein deutsches Zufallsprodukt ist.
Ich habe daher nach zwei Ländern mit stark unterschiedlicher Reaktion gesucht, die dennoch ansonsten im Wesentlichen vergleichbar sind. Konkret: Norwegen und Schweden. Ähnliche Bevölkerungsstruktur, Kultur und wirtschaftliche Entwicklung.
Siehe Post #6940: Auch dort ist die Ausbreitung in dem Land größer, welches die Mobilität weniger stark eingeschränkt hat. Hypothese wieder nicht falsifiziert.
Man könnte jetzt noch prüfen, ob sich der Trend, dass eine im Bezug auf den ersten Ausbruch in einem Land späte Abnahme der Mobilität in der Folge zu schlechteren Verläufen widerlegen lässt. Dann bräuchte man so langsam, aber sicher mal Kontrollbevölkerungen mit guten Zahlen, die keine Abnahme der Mobilität haben. (Hinweis: Da kann man ´ne ganze Weile suchen. Wer meine Argumentation für gut widerlegbar und bar jeder Grundlage hält, dürfte hier allerdings noch die besten Chancen haben.)
4) Die Frage ob die Kontaktreduktion einen positiven Einfluss auf die Ausbreitung hatte ist meiner – Achtung, jetzt kommt sie – Meinung nach mit „Ja“ zu beantworten. Die Frage die wir noch diskutieren müssen ist, ob die Kontaktreduktion auch ohne den angeordneten Lockdown weiter hätte aufrecht erhalten werden können. Achtung, wieder Meinung: Nein, ich denke nicht, siehe Hygienedemos. Haben wir es mit den Maßnahmen insgesamt übertrieben? Möglich. Droht jetzt eine Untertreibung? Auch möglich.
Blackland schrieb:
Die Zahlen aus anderen Ländern interessieren dabei nicht wirklich, man kann nur Vermutungen oder Hypothesen daraus bilden.
Doch, die interessieren mich persönlich schon. Ich darf mir nämlich die ganze Zeit anhören, dass in Schweden alles großartig sei.
Was machen die Schweden? Sie durchseuchen kontrolliert und kriegen das scheinbar auch gut hin. Ich kann mir daher vorstellen, dass die Schweden bis September/Oktober im Wesentlichen durch sind.
Welche Konsequenzen hat der Weg der Schweden?
1) Die Therapieansätze, die sich so langsam abzeichnen, kommen für die – vergleichsweise - vielen Schweden, die die Krankheit schon jetzt hinter sich haben zu spät. Ist halt Pech.
2.1) Sollte gegen Herbst dann doch noch ein wirksames Virostatikum kommen, sind die Schweden vermutlich schon so weit „durchseucht“, dass sie davon kaum mehr profitieren. Das wäre dann halt auch Pech.
2.2) Kommt nichts nach, so müssen sie vermutlich mit Blick auf den Winter keine zweite Welle fürchten. Da hätten sie also Glück gehabt.
3) Die Wirtschaft ist scheinbar ähnlich betroffen wie unsere. Tja, Pech halt.
4) Die Mobilitätsdaten legen nahe, dass auch dort kein normales Leben stattfindet. Auch etwas Pech.
5) Wenn ihnen der Mist – wider Erwarten – doch noch entgleitet, müssen sie den harten Lockdown nachholen, in einer Situation, in der die Wirtschaft schon am Boden liegt. Das wäre schon großes Pech.
Meine Meinung: Nein, Schweden ist kein Wunderland, in dem es viel besser läuft als bei uns.
Blackland schrieb:
So leicht lassen sich da keine Bezüge ableiten, auch wenn das einige gerne so sehen.
Tja, so leicht wie du habe ich es mir dennoch nicht gemacht. Die Haltung „alles viel zu kompliziert, Ableitungen nicht möglich“ einzunehmen ist halt vor allem eines: einfach.
Ich räume allerdings ein, dass meine Wortwahl die von mir empfundene Unsicherheit in meiner Argumentation nicht immer akkurat widerspiegelt. Mea culpa.
Daher oben nochmal öffentlich und für alle. So kann jeder inhaltliche Gegenargumente vorbringen.
xxlrider schrieb:
Entbehren also die Covid-19 Beschränkungen jeglicher statistischen Grundlage oder nicht ?
Meine Meinung: Nein, dein Argument ist in dieser Form nicht geeignet, die Grundlage der Beschränkungen in Zweifel zu ziehen. Es ignoriert nämlich scheinbar jedwede Änderung der Anzahl der Toten und macht implizit die Annahme, dass diese Anzahl unter keinen Umständen in einen Bereich anwachsen könnte, der die Maßnahmen rechtfertigt. Und genau das müsstest du eigentlich zu begründen versuchen: Dass die Anzahl nicht so stark steigen kann, dass wir uns im Nachgang denken „hätten wir mal besser…“. Das wäre anders, wenn wir einen Rewind-Button hätten, die Sache einmal durchlaufen lassen könnten, um dann alles auf Anfang zu stellen und zu sagen: Ab dem Punkt hätten wir eingreifen müssen. Haben wir aber nicht. Also müssen unsere Maßnahmen immer erfolgen, bevor wir mit Bestimmtheit sagen können, wie genau die Zukunft abläuft.
Auch die Wiederholung macht das Argument nicht besser. Du musst nämlich jedes Mal, wenn du das Argument am Folgetag wiederholst eine größere Zahl für die Todesfälle nennen und die für immer noch unbedeutend erklären. Und jedes Mal nimmst du – wider der Erfahrungen der vergangenen Male – an, dass das Ende der Fahnenstange erreicht ist. Wie oft willst du das noch durchziehen?
Auch der Vergleich mit den Todesfällen anderer Ursachen hinkt. Ich kann sehr wohl einerseits hinnehmen, dass sich z.B. jemand totsäuft, mir aber gleichzeitig wünschen, dass meinem an der Lunge vorerkrankten Vater eine COVID-19-Infektion ohne gut verstandene Therapieansätze oder antivirale Mittel erspart bleibt.