Einen Trainerwechsel zu fordern ist vollkommen überzogen und ein Zeichen der übertriebenen Erwartungen, die in Deutschland herrschen. 2006 und 2008 haben wir nur den Notstand im deutschen Fußball verwaltet. Die Erwartung, mit den damaligen Mannschaften Titel gewinnen zu müssen, war das Resultat einer verklärten Euphorie im Zuge des Sommermärchens. Tatsächlich fehlte aber das spielerische Potential, um in dieser Zeit einen Titel zu gewinnen.
Seit 2010 haben wir das spielerische Potential, aber nicht die nötige Reife und Erfahrung, um dieses Potential jetzt schon auf höchstem Niveau abzurufen. Vor dem Turnier haben alle davon geredet, dass mit Hummels, Reus und Götze nichts mehr schief gehen kann. Ich war wohl wirklich einer der ganz, ganz Wenigen, der bei solchen Aussagen laut aufgeschrien hat. Man kann von so jungen Spielern nicht erwarten, dass sie uns in ihrem ersten Turnier zum Titel führen. Man kann es auch nicht zwangsläufig im zweiten oder dritten Turnier erwarten.
Hummels und Badstuber haben gestern Anfängerfehler gemacht. Der eine verlässt ohne Not das Zentrum, um den Ball zu erobern, der andere schaut nur auf den Ball, sieht aber nicht den Gegenspieler. Anfängerfehler. Eine Drehung, eine Flanke, Tor - und plötzlich wird ein Spiel, in dem bis dahin das Konzept zumindest teilweise aufging und man die besseren Torszenen hatte, ganz, ganz schwierig.
Das passiert bei so jungen Spielern, die ihr erstes Turnier spielen (bei Badstuber ist es das Zweite, allerdings das Erste als Stammkraft in der Innenverteidigung), und wenn man nicht ständig dem Hype, sei es in Dortmund, sei es in der Nationalmannschaft, nachträllern würde, dann hätte man schon vor dem Turnier wissen können, dass die Unerfahrenheit der Einen und die Formschwäche der Anderen jederzeit zum Verhängnis werden können.
Zugegeben, gestern war ich enttäuscht und wütend, weil auch ich mich ein von den soliden Leistungen der jungen Spieler habe einlullen lassen. Aber heute bin ich nicht einmal enttäuscht. Die Mannschaft steht genau da, wo man sie ihrer Entwicklung entsprechend erwarten kann. Bedenkt man, dass die Spanier zum gleichen Zeitpunkt in ihrer Entwicklung regelmäßig am Viertelfinale gescheitert sind, sind wir vielleicht sogar weiter, als man erwarten dürfte.
Man muss auch nicht wieder die Frage nach den Leadern stellen. Lassen wir Klose mal Außen vor, dann ist unser ältester Spieler 27 Jahre alt. Unsere Mannschaft hat einen Altersdurchschnitt von 25 Jahren. Die Italiener und Spanier sind uns auf allen Schlüsselpositionen fünf, sechs Jahre voraus. Worüber reden wir also? Dass unser "Chefchen" noch kein Pirlo ist? Ein wenig vermessen, nicht wahr?
Natürlich hat sich Löw auch verzockt. Nicht nur gestern, sondern im ganzen Turnier. Die Mannschaft hat nach der kurzen und zerrütteten Vorbereitung und mit den vielen unerfahrenen oder formschwachen Spielern einen schweren Stand. Die vielen Systemwechsel haben der Mannschaft sicherlich nicht gerade geholfen, um zu ihrem Spiel zu finden und sich im nötigen Maße zu steigern.
Aber es darf auch bezweifelt werden, ob alles gut geworden wäre, wenn man von Anfang an auf eine Offensive mit Reus, Klose und Müller auf Rechts gesetzt hätte. Italien hatte jedenfalls keine Mühe, den deutschen Offensivwirbel in der zweiten Halbzeit mit einigen einfachen taktischen Änderungen abzuwürgen. Klar, sie haben mit einer komfortablen Führung im Rücken gespielt, aber sie hätten bei einem Unentschieden auch nicht darauf gewartet, bis die Deutschen die Führung erzielen, sondern frühzeitig umgestellt, die deutsche Offensive abgewürgt und weiterhin mit langen Bällen operiert, mit denen Hummels und Badstuber immer Probleme hatten.
Letzten Endes sind wir an der Fehlerquote, die durch die Unerfahrenheit und die Formschwäche einiger Spieler entstanden ist gescheitert, und das ist vollkommen zu erwarten gewesen und in diesem Stadium der Entwicklung der Mannschaft nicht ungewöhnlich. Die ständigen Systemwechsel mögen ihren Teil beigetragen haben, aber deswegen reflexartig einen Trainerwechsel zu fordern, geht an der Sache vorbei.
Diese Mannschaft braucht Zeit. Erst ab 2014 wird sie vielleicht sowohl das spielerische Potential als auch die Reife vereinen, um jedem Gegner zu jeder Zeit gewachsen zu sein. Diese Zeit wird ganz sicher kommen. Und bis dahin ist es vielleicht ganz gut, wenn der unsägliche Hype und die überbordenden Erwartungen einen Dämpfer erhalten und Löw auch mal in Frage gestellt wird.
Ich verabschiede mich an der Stelle in einen Fußballlosen Sommer, den ich sehr genießen werde, und freue mich auf die nächsten beiden Jahre, in denen Mannschaft nochmal einen großen Sprung nach Vorne machen wird.