Kaboooom schrieb:
[...]
Außerhalb des wissenschaftlichen Systems sind Prämissen diskutierbar, aber nicht innerhalb.
Und praktisch alle wissenschaftlichen Systeme bzw. Konzepte erfordern Prämissen, selbst bzw. gerade auch die Mathematik als formal reinste aller Wissenschaften. [...]
Du hast einen sehr komischen Begriff von "Prämisse", das ich vielleicht als Axiom bezeichnen würde. Klar kann ich ein Axiom als Prämisse setzen, aber um dir mal philosophisches Vokabular zu erhellen - du scheinst ja eher aus der Biologie zu kommen (ich nicht) - für Philosoph:innen sind Prämissen Annahmen, die in einem Argument gesetzt werden, in welchem dann durch Schlussformeln Konklusionen, also Schlussfolgerungen, aus den Prämissen gezogen werden. Wenn du allerdings glaubst, dass "die Wissenschaft" Axiome hat, würde ich sagen, vielleicht, in der empirischen Wissenschaft schlagt ihr euch aber hauptsächlich mit empirischen Fakten rum und die sind kontingente (nicht-notwendige) Wahrheiten, welche prinzipiell falsifizierbar sind. Das ist ein ziemlicher Unterschied zur Mathematik, weil das Axiom 1+1=2 nicht falsifizierbar ist. Das ist so, weil Euklid das so festgelegt hat, und als Anwender von Mathematik kann ich mir überlegen, ob mir das beim Handeln mit Äpfeln etwas nutzt oder nicht. Egal was ich beim Handeln mit Äpfeln feststelle, das könnte meine empirische Wissenschaft verändern, aber nicht die Mathematik. Die Mathematik müsste ich selbst verändern. Mein erster Philophielehrer hatte deshalb auch die Mathematik nicht als Wissenschaft bezeichnet, sondern als Werkzeug der Wissenschaft. (so wie die Logik Werkzeug der Philosophie ist)
Kaboooom schrieb:
- aber verbindliche Wertprämissen stellt Philosophie selbst nicht (und daher kann das auch kein Experte auf Basis seiner Philosophie-Expertise tun)
Wie in diesem Betrag oben gesagt, ich möchte es nur nochmal unterstreichen: Streich bitte diese Verwendung des Wortes Prämisse. Ob ChatGPT ein Mundverbot bekommen soll und wenn ja welches, kann These und damit Konklusion sein und ist damit etwas, dass jemand in Begründung einer solchen These/Konklusion mit einer Schlussfolgerung aus irgendwelchen Prämissen begründen müsste. Ich leg dir meine eingangs genannten Buchempfehlungen nochmal ans Herz.
Kaboooom schrieb:
[...]
Die Frage wäre aber, welche philosophisch-wissenschaftliche Methodik erlaubt die Generierung von Ansichten, die objektiv anderen (sei es zum Beispiel einer rein gefühlsmäßigen) überlegen ist? [...]
Das Erfahrensein mit den Fehlern, in die philosophische Begründungen so laufen, das hilft einem enorm dabei, Vorurteile entweder zu verhindern oder zumindest
weniger vorurteilhaft zu sein. Bei den meisten scheint es mir so zu sein, dass sie durch ein Philosophiestudium weniger selbstgerecht werden. Das Problem, das dadurch entsteht, ist, dass jemand, der so erfahren darin ist, mölgichst viele Einwände gegen jede Position zu sehen, sehr schwerfällig darin ist, eine Entscheidung zu treffen, und deshalb ist es vielleicht ganz gut, wenn in jedem Ethikrat auch Leute sind, die nicht Philosophie studiert haben.
Von Marx gibts ein im Osteuropakommunismus beliebtes Zitat: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ (
PhiloMag) Das deutet so ein bisschen auf das Problem hin, aber auch auf das, was ich dir hier die ganze Zeit versuche zu erklären: Philosoph:innen werden dir wahrscheinlich die Entscheidung selten abnehmen, was du für gut zu tun halten sollst, sondern dich nur größtmöglich "verwirren", damit du, wenn du eine Entscheidung triffst, zumindest von den größten Dummheiten abgehalten wirst. Und nicht unwahrscheinlich werden Philosoph:inen versuchen, deine eigenen Werte in ihre Argumente als Prämissen mit einzubauen, weil das das ist, was es wahrscheinlich macht, dass du nicht wie -Daniel- einfach auf Durchzug stellst.
Man guckt erstmal, welche Werte du hast und welche von diesen du auf keinen Fall aufgeben wirst und dann guckt man sich an, wie widersprüchlich dein Werk zu deinem Wertekanon ist. Eventuell schaut man sich an, ob du deinen Wertekanon modifizieren möchtest, nachdem du auf Widersprüche hingedeutet wirst. Diese Investigation ist üblich für Angewandte Ethik und, auch wenns manche nicht glauben wollen, auch das ist in der schieren Menge von Tätigkeiten enthalten, die wir heute Philosophie nennen. Ist jede:r Philosph:in Experte dafür? Provokante Gegenfrage: Sind alle Physiker:innen Experten für CPU-Design?