Mir lässt es wirklich keine Ruhe, dass hier weiterhin - ohne jegliche datenbasierte Quellenangabe! - von
Analphabetenraten in Deutschlands jugendlichen Klassenzimmern in Größenordnungen um 15% ausgegangen wird. Das ist
Blödsinn!
Wir erinnern uns: Es geht hier um den Vorwurf, dass Medien wie Twitter - die hauptsächlich von Jugendlichen genutzt werden - zu einer hohen Rate (funktionaler) Analphabeten beitragen. Gucken wir uns also genau diese beiden Aspekte an: Die Analphabetenrate unter Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen und die Nutzung von Twitter.
Analphabetenrate unter Jugendlichen
Mit Abstand am validesten sind die Zahlen der PISA-Erhebungen. PISA hat ein theoretisch fundiertes, mit Daten validiertes, reliables Kompetenzstufenmodell. Erhoben wurden 2009 die Kompetenzen der 15-Jährigen - die sind heute 17-18 Jahre alt und genau die "Zielgruppe" der News.
Das 2009er-PISA-Modell formuliert Lesekompetenz als die Fähigkeit, "
geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen, über diese zu reflektieren und sich mit ihnen auseinanderzusetzen (engaging with written texts), um die eigenen Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen."
das Modell geht aber noch viel weiter und gliedert die Kompetenz in Stufe 1-6, wovon die Basisstufe 1 noch einmal aufgeteilt ist:
Stufe 1b, niedrigste Stufe: Bei Aufgaben dieser Stufe muss in einem kurzen, syntaktischen einfachen Text aus einem gewohnten Kontext, dessen Form vertraut ist, z.B. in einer einfachen Liste oder Erzählung. eine einzige, explizit ausgedrückte Information lokalisiert werden, die leicht sichtbar ist. Der Text enthält in der Regel Hilfestellungen für den Leser, wie Wiederholungen, Bilder oder bekannte Symbole. Es gibt kaum konkurrierende Informationen. Bei Aufgaben vom Typ Kombinieren und Interpretieren müssen einfache Zusammenhänge zwischen benachbarten Informationsteilen hergestellt werden.
Stufe 1a, zweitniedrigste Stufe: Für Aufgaben dieser Stufe müssen in einem Text zu einem vertrauten Thema eine oder mehrere unabhängige, explizit ausgedrückte Informationen lokalisiert, das Hauptthema oder die Absicht des Autors erkannt oder ein einfacher Zusammenhang zwischen den im Text enthaltenen Informationen und allgemeinem Alltagswissen hergestellt werden. Die erforderlichen Informationen sind in der Regel leicht sichtbar, und es sind nur wenige bzw. keine konkurrierenden Informationen vorhanden. Der Leser wird explizit auf die entscheidenden Elemente in der Aufgabe und im Text hingewiesen.
Ich würde sagen, dass wer Stufe 1b erreicht hat, per definitionem kein funktionaler Analphabet ist.
Weniger als 2% der deutschen teilnehmenden Schüler erreichen nicht die Stufe 1b! Erhöhen wir unsere Anforderungen und verlangen von unseren Schülern das Erreichen der Stufe 1a, sind es immer noch weniger als 6% der Jugendlichen, die die Stufe nicht erreichen. Natürlich, 6% sind 6% zu viel - aber das ist weit entfernt von den angeblichen 15%.
Fazit: <2-6% - und keine 15 oder gar 20!
Quellen:
Allgemeine Pisa-Ergebnisse
Verteilung der Lesekompetenz-Stufen
PISA 2009 Lesekompetenzstufen-Modell
Twitternutzung
Hier finde ich es schwierig, an verlässliche Daten zu kommen, weil dank der rasanten Entwicklung restlos alle wissenschaftlichen Artikel aus peer-review Zeitschriften am Tag der Veröffentlichung hoffnungslos veraltet sind. Laut ziemlich aktuellen Zahlen der
webevangelisten gibt es rund 500.000 "aktive" deutschsprachige Twitter-Accounts. Mit eingeschlossen sind da aber auch Accounts aus Österreich, der Schweiz, usw. Außerdem kamen die webevangelisten
in einer etwas älteren Umfrage von Ende 2009 zu dem Ergebnis, dass die meisten deutschsprachigen Twitteraner hoch gebildet sind.
Am zuverlässigsten dürften noch die Zahlen der
ARD-ZDF-Onlinestudie (2011) sein: Dort ist zu lesen, dass 3% der Deutschen Twitter zumindest gelegentlich nutzen. Schaut man sich nur die 14-17-Jährigen an, sind es
7%. Wie viele in dieser Teilgruppe wie häufig twittern oder tweets lesen, steht leider nicht in der Studie, aber in der Gesamt-Online-Bevölkerung nutzen zwei Drittel Twitter seltener als 1x pro Monat. Bei uns am Fachbereich
läuft gerade eine Replikationsstudie, die das Nutzungsverhalten von Online-Usern (natürlich inkl. Twitter) detaillierter untersucht.
Fazit: Nur 7% der Jugendlichen nutzen Twitter überhaupt, und von denen wahrscheinlich grob zwei Drittel seltener als 1x pro Monat. Die meisten Nutzer sind hoch gebildet. Wer auf Basis dieser Datenlage ernsthaft behauptet, Twitter würde in Deutschland ein ernsthaftes Problem für die Sprache darstellen, hat imho nicht mehr alle Tassen im Schrank.
Unterm Strich bleibt, dass es in Deutschland unter Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen eine geringe Analphabetenrate gibt, eine leicht überdurchschnittliche Lesekompetenz im weltweiten Vergleich, und dass Twitter definitiv nicht schuld an den grob 5% jugendlichen funktionalen Analphabeten ist.