Bei Tschernobyl wurde auch "nur" die Betriebsordnung ein wenig vernachlässigt.
In Tschernobyl wurde der Reaktor vorsätzlich in einen nicht zulässigen Bereich gefahren, dagegen finde ich das Offenlassen einer Tür geradezu harmlos.
Nein. Das Szenario für den Test war ein Auslegungsstörfall (Kühlmittelverlust bei gleichzeitigem Station Blackout). Der Test selbst entsprach, in allen entscheidenden Punkten seiner Durchführung, den zu diesem Zeitpunkt geltenden Sicherheitsvorschriften von 1982. Das Grundproblem war das politische System, das eine Umsetzung der bereits von NIKIET u.a. auf Basis von Vorgängerereignissen und den Erfahrungen im Regelbetrieb durchgeplanten Modifikationen, die die Havarie verhindert hätten, blockierte. Gleichzeitig war die Reaktormannschaft über wichtige Eigenschaften der damaligen Anlagenauslegung gar nicht informiert und die Instrumentierung z.T. unzureichend.
Im Rahmen der Aufarbeitung hatte die Sowjetunion natürlich großes Interesse daran, einen großen Teil der Schuldfrage auf die Bedienmannschaft abzuwälzen. Dabei haben sie tatsächlich kaum – und an keiner Stelle entscheidend – gegen gültige Betriebsvorschriften verstoßen. So gab es beispielsweise keine Beschränkung für den Betrieb im unteren Leistungsbereich*, obwohl dies immer noch gerne angeführt wird. Gerade Djatlov mußte hier als Bauernopfer herhalten, war aber tatsächlich alles andere als inkompetent. Diese Fehleinschätzung zieht sich fortlaufend durch diverse populäre TV-"Dokumentationen", die wichtige Abläufe nicht korrekt behandeln und Meinungsverschiedenheiten der Bedienmannschaft (z.B. in Bezug auf die ORM) konstruieren, die es real nie gegeben hat. Bis zur geplanten Auslösung des Havarieschutzes war die Situation für sie auch gar nicht erkennbar.
Festzuhalten ist an dieser Stelle: Eine identische Havarie hätte sich damals zu jedem Zeitpunkt in einem RBMK aus dem Regelbetrieb heraus ereignen können. Diese Gefahr besteht nach den in einer ersten Stufe sehr schnell erfolgten Nachrüstungen nicht mehr. Hinsichtlich bestimmter Szenarien, interessanterweise sogar dem damaligen "Simulationsziel", bietet er sogar hohe Sicherheitsmargen.
Gruß
Denis
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"The statement made in INSAG-1 (p. 15) that "continuous operation below 700 MW(th) is forbidden by normal safety procedures owing to problems of thermalhydraulic instability" was based on oral statements made by Soviet experts during the week following the Vienna meeting. In fact, sustained operation of the reactor at a power level below 700 MW(th) was not proscribed, either in design, in regulatory limitations or in operating instructions." (INSAG-7)