Nur sporadisch sind
Covid-19-Statistiken noch ein Hingucker: Fallzahlen, Hospitalisierungen und Todesopfer – für die meisten sind es eben genau das: nur mehr Zahlen. Unsere postpandemische Lebensweise ist eine der permanenten Verdrängung. Zu vergessen, dass sich hinter den Zahlen Tragödien abspielen und menschliche Schicksale stehen, scheint uns immer besser zu gelingen. Gleichzeitig aber keimt mit neuen medizinischen und wissenschaftlichen Befunden eine böse Ahnung: dass die erste Pandemiephase mit ihrer enormen akuten Krankheitslast nämlich nur eine Facette einer historischen, lang anhaltenden Gesundheitskrise ist.
HOHER PREIS FÜR SYSTEMISCHE INFEKTIONEN
Die vermeintliche Ruhe an der Covid-Front ist also trügerisch. Nur weil Masken und Testzentren aus dem Blick geraten, verschwinden die Spät- und Langzeitfolgen nicht. Im Gegenteil. Mit Covid-19 wird auch für viele Wissenschaftler und Mediziner erstmals vor Augen geführt, welcher horrende Preis für eine so schwerwiegende, systemische Infektion gezahlt werden muss. Nur zur Einordnung, dokumentiert von
Schweizer Klinikern in „JAMA Network“: Verglichen mit schweren Grippefällen, lag die Sterblichkeit unter insgesamt mehr als fünftausend Klinikpatienten im ersten Halbjahr 2022 bei den an Omikron Erkrankten anderthalbmal so hoch.
Wie heimtückisch Sars-CoV-2 ist, lässt sich dennoch vielleicht erst in den kommenden Jahren vollends ermessen. Denn das Virus nistet sich bei vielen Infizierten
in unterschiedlichen Organen ein, es vermag Gewebe, Gefäße und das Immunsystem nachhaltig zu schädigen. Und das könnte fatale Folgen haben – keiner weiß, wie lange und wie viel später im Leben. Möglicherweise ist
Long Covid, das Wochen und Monate nach der Akuterkrankung festgestellt wird und an dem gut zehn Prozent (weltweit schätzungsweise 65 Millionen) der Covid-19-Patienten leiden, Teil einer noch größeren Krankheitslawine. Im „Journal of the Royal Society“ haben britische Forscher soeben eine Studie veröffentlicht, in der sie die Organschäden von Long-Covid-Opfern mehr als ein Jahr lang mit Bildgebung und Tests zu ermitteln versuchten. Ergebnis: 59 Prozent der 536 Patienten hatten, ob mild oder schwer an Covid-19 erkrankt, auch ein Jahr nach überstandener Infektion noch mindestens ein dysfunktionales Organ. Bei fast einem Drittel waren es mehrere Organe.
Charité-Forscher finden Muskelstörungen
Tom Aschmann und Nora Dengler von der Berliner Charité haben in der Muskulatur von Long-Covid-Patienten mit Erschöpfungssyndrom Hinweise gesammelt, dass die typischen immunologischen Entgleisungen nicht nachlassen, die Entzündung anhält, Gefäße geschädigt und Stoffwechselprozesse gestört bleiben.
Durchaus beunruhigen kann auch eine Studie italienischer Forscher aus dem
Nature-Journal „npj“, in der anhand von Autopsien bei zwei Dutzend Covid-Opfern gezeigt wird, wie – anders als bei den Gewebeproben von Todesopfern anderer Atemwegsinfekte – offenbar auch jene Bereiche im Mittelhirn und Hirnstamm geschädigt werden können, die bei Parkinsonkranken degenerieren.
Steht Sars-CoV-2 also wie das Epstein-Barr-Virus im Falle der Multiplen Sklerose am Anfang einer zerstörenden, spät einsetzenden Kaskade? Noch ist die Datenlage dünn, die Zahl der Patienten klein, und viele sind vorerkrankt. Doch der Befund sorgt dafür, wie aktuell im britischen „Guardian“ zu lesen ist, dass unter Fachleuten eine alte These zur Entstehung von Alzheimer durch Viren wieder Auftrieb bekommt.