Schrammler schrieb:
Dabei muss man wohl noch auseinandernehmen was der AfD an den neoliberalen Reformen nicht schmeckte, Bologna z.B. oder das Bild der berufstätigen Mutter, das Gender-Mainstreaming. Das ist aber Kleinkram, in etwa so wie die neoliberale SPD und ihre Ablehnung von Studiengebühren auf Länderebene. Die Politik ist immer die Gleiche und wahrlich keine Alternative.
Hier muss ich mal kurz einhaken (das nun folgende bitte sehr vorsichtig interpretieren und NICHT auf Schrammlers Meinung beziehen ... die kenne ich nämlich noch nicht).
Mit dem Ende bin ich ja soweit Einverstanden (Die Politik ... ).
Aber da ich die Umstellung auf "Bildung Bolognese" am eigenen Leib "erfahren durfte", haben wir hier EINEN Punkt, mit dem ich mit der AfD d'accord gehen könnte.
Was waren die Begründungen für den Bologna-Prozess? Vereinheitlichung der Abschlüsse auf europäischer Ebene und eine vorher ungekannte "Ökonomisierung der Bildung". Der Auslöser (zumindest für das deutsche Abnicken dieser Bildungs-Deform), liegt mMn im "PISA-Schock", dessen Nachbereitung in der Erziehungswissenschaften zu einem Umdenken geführt hat (allerdings nicht nach gusto Bologna).
Das Schlechte Abschneiden des deutschen Bildungssystems im europäischen und sogar weltweiten Vergleich (das sich in anderen Tests - z.B. IGLU oder TIMMS - wiederholte), wurde nicht auf "mangelnde Effizienz" des gesamten Bildungssystems zurückgeführt, sondern eben auf das Vorhandensein zu schlechter Betreuungsschlüssel, zu alter pädagogischer Konzepte, einer Erziehung hin zu sozialer Ungleichheit (bzw. einer Verstärkung der Ungleichheiten DURCH das Schulsystem), und einer Überbetonung des Wettbewerbs zwischen SchülerInnen UND zwischen LehrerInnen.
Dadurch wurde der schon seit Jahrzehnten beschworene Ruf nach mehr Lehr-Personal, einer durchgehenderen Erziehung zu sozialer Verantwortung sowie einer tatsächlichen Verpflichtung von Lehrkräften zu REGELMÄSSIGEN Weiterbildungen gestärkt. Gleichzeitig wurde gefordert, die Inhalte der Bewertungsfächer (Pflichtfächer, also Deutsch, Mathematik, Englisch, Naturwissenschaften ...) zu reduzieren, um das verbleibende Material mit genügend Zeit und an das individuelle Lerntempo angepasst nicht nur vermitteln, sondern eben auch besser vertiefen zu können (erst in der Vertiefenden Anwednung finden tatsächlich nachhaltige Lernprozesse statt).
Was passiert ist, war eine wahre Evaluationswut (weil man halt wissen wollte, wo es denn nun genau hakt), eine starke Reduzierung der Regelschulzeit bei nur geringfügiger Reduzierung der Lerninhalte, eine Vereinheitlichung der Leistungsabfragen (Zentralabi als Stichwort), sowie eine leichte Steigerung der Persolandichte (vor allem wegen integrativer Aufgaben). Alles augedacht von Juristen, Ökonomen, Journalisten und nur ganz ganz wenigen Pädagogen (die wurden im Prinzip nicht wirklich gefragt, sondern waren eher als Sündenbock für das "alte, zu lasche und daher wenig leistungsfähige" Schulsystem öffentlichkeitswirksam).
Insgesamt gab es einige positive Veränderungen schon im Vorfeld zu PISA: Z.B. der gemächliche Umstieg auf jahrgangsübergreifenden Unterricht in der Grundschule (Klassen 1,2 und 3), bei dem Kinder sich untereinander helfen können (weil eben NICHT alle den gleichen Lernstand haben), wodurch soziales Lernen (z.B der Umgang mit Unterschieden) viel öfter beobachtet werden kann, als in streng isoliert unterrichteten Einheitsklassen und auch individuelle Lerntempi weitaus besser berücksichtigt werden können (hier ist es nämlich nicht so schlimm, wenn jemand am Ende der 2, Klasse noch nicht so gut lesen kann, wie seine Altersgenossen, solange er es bis zum Ende der 3, Klasse noch lernen kann, ist alles OK).
Und wo kam all das so plötzlich her, als es nach dem PISA-Schock dann flächendeckend umgesetzt wurde? Ist das schnell mal entwickelt worden? NEIN ... es lag seit Jahrzehnten in den Schubladen der Kultusministerien (wissenschaftlich aufgearbeitet und experimentel bestätigt) und verschimmelte, weil in den 1980ern und 90ern eben niemand daran glaubte, dass dieser Aufwand nötig werden würde.
Entwickelt und erprobt (wissenschaftlich begleitet von der Fakultät für Erziehungswissenschaften der Universität, dem das Schulprojekt als "wissenschaftliche Einrichtung" angegliedert ist) wurde das in einem relativ kleinen und viel belächelten Schulprojekt in Bielefeld, welches schon seit Mitte der 1970er Jahre genau so arbeitet, wie man es aus der heutigen Grundschule kennt (nur baulich sind Laborschulde und Oberstufenkolleg nochmal was ganz anderes ... so fast ohne Klassenräume).
Nach dem PISA-Schock beantragte die Universität Bielefeld auf Initiative von Prof. Dr. Tillmann (damals Leiter des deutschen PISA-Konsortiums), eine gesonderte Prüfung der bielefelder Schulprojekte. Das Ergebnis war, dass beide Schulen um einiges besser Abschnitten, als JEDES bayerische hardcore-Gymnasium und in einigen Fächern sogar mit dem damaligen europäischen Bildungs-Riesen Finnland mitalten konnte.
Die Erkenntnis der Politiker: "Wenn all unsere Schulen ein bisschen so arbeiten würden, wie LS und OS, dann wäre Deutschland der PISA-Schock in erlebter Intensität erspart geblieben ..."
Da ich die Schulprojekte recht gut kenne (als ehemaliger Pädagogik.-Student der Universität Bielefeld bleibt das nicht aus), sehe ich heute in modernen Grundschulen mit offenem Ganztagsbereich vor allem eines ... kleine Laborschul-Klone ohne die baulichen Vorraussetzungen für eine genaue Kopie der originalen pädagogischen Konzepte (der Primarbereich der Laborschule ist ein bisschen so, wie OGS mit im Laufe von 3 Jahren ansteigendem Pflichtanteil - mittlerweile werden an der LS auch höhere Jahrgangsstufen jahrgangsübergreifend unterrichtet ... man will seine "Besonderheit" gegenüber der Regelschule halt doch bewahren).
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An den Unis ist der Bologna-Prozess noch deutlicher zu bemerken gewesen (dass die Unis danach für den Beobachter scheinbar 10mal mehr Studenten hatten, ist noch eine eher positive Entwicklung, die Anwesenheitskontrolle, durch die das erreicht wurde war es mMn NICHT - aber das Fass will ich hier nicht auch noch aufmachen).
Mein Beispiel ist die Uni Bielefeld. gebaut Ende der 1960er ist diese Universität auf ca. 19.000 Studierende ausgelegt ... schon vor dem richtigen Einschlag des Bologna-Prozesses waren dank Studiengebühren weit über 22.000 Studerende eingeschrieben (3.000 mal um die €500,- sind ne Menge Asche mehr in der Kasse). Gleichzeitig wurden nicht wenige Langzeitstudierende (1,5 mal Regelstudienzeit überschritten) mit €850,- Sonderstudiengebühr (normale Gebühr plus damals in NRW noch zulässigen Aufschlag für Langzeitstudis) zur Aufgabe gezwungen (teilweise kurz vorm Diplom).
Durch die mit dem Umstieg auf die consecutiven Studiengänge (Bachelor und Master System) gleichzeitig eingeführte Anwesenheitspflicht (nebst Kontrolle - sogar in Vorlesungen mit über 1000 eingetragenen Hörern) ist die krasse Überbelegung der UniBi richtig aufgefallen, denn es waren nicht nur nicht ansatzweise genug Räume für den ganz normalen Lehrbetrieb da, es wurden auch schlicht viel zu wenig Kurse angeboten.
Folge: Personalaufstockung, Häufung von Wochenend- und Blockseminaren, Eindampfung der Leistungsanforderungen (plötzlich gabs in manchen Seminaren für EIN Sitzungsrotokoll bis zu 3 Leistungspunkte, bei manchen Dozenten war dabei sogar Gruppenarbeit möglich) .... und und und ... in dieser Zeit war studieren an dieser Universität nicht mehr wirklich angenehm UND nichtmal mehr durch etwas anderes, als überfüllte Räume anspruchsvoll.
Aber dank Bologna kam es ja noch dicker, denn da gab es dann noch einen doppelten Abiturjahrgang (dank Umstellung von G13 auf G12), der auch an den Gymnasien und Gesamtschulen nicht angenehm gewesen sein dürfte. Plötzlich wären es fast 24.000 Studierende gewesen, wenn die Fakultäten der UniBi nicht gezielt aus diesem Anlaß ihre Zugangsbeschränkungen massiv angezogen hätten ... eine andere Bologna-Notbremse blieb nach der ersten Bewerberwelle nicht übrig.
Mittlerweile entstehen überall um das Universitätshauptgebäude neue Universitätsgebäude, wodurch die UniBi auf ihren größten Vorteil (alle Fächer unter einem Dach als ehemaliges Alleinstellungsmerkmal) letztlich verzichtet.
Ich halte Bologna für das mit Abstand schlimmste, was dem deutschen Bildungssystem seit 1945 angetan wurde -Nur mit der NSDAP-Doktrin als "einzige Legitimation für Schulstoff" kann Bologna nicht mithalten (das Teilen haben die damals tatsächlich anhand der Struktur der Wehrmacht thematisiert und beim Thema "stetige Funktionen" gabs ein bisschen Balistik ... insgesamt war die Schule durchgehend nazifiziert und auf die Zucht von Soldaten, Arbeitern und braven hausmütterlichen Gebährmaschinen ausgerichtet).
Für Bologna sage ich als Pädagoge ganz lieb Danke ... und verabschiede mich dann doch lieber aus diesem Zirkus, denn es ist eben ein "nein Danke", und das war es schon, als der Prozess selbst noch nicht beschlossen war.
Auch wenn ich ansonsten freudig in jeden Anti-AfD-Gesang einstimme ... bei ihrem Ruf nach einem Rollback für Bologna haben sie mMn Recht.
Die genaue Position der AfD zu diesem Punkt kenne ich nicht, aber das Prinzip Bologna bietet mehr als genug vernünftige Gründe für ein NEIN. Dazu muss man sich nur die Folgen dieser Bildungsdeform angucken. Gestiegene Schulversagensraten, insgesamt gesunkenes Leistungsniveau bei gestiegenem Stoffumfang (durch reduzierte Schulzeit), gestiegene Studienabbruchsraten, härtere Konkurenz um gute Noten und Studienplätze, reduzierte Sozialkompetenz bei Jugendlichen etc.pp.
Meiner Meinung nach ist das alles eine direkte Folge des Bologna-Prozesses ... mehr noch, DAS wurde sogar von führenden deutschen Erziehungswissenschaftlern prophezeiht, und mMn ging es bei Bologna nie um etwas anders, als eine Steigerung des Selektions- und Mobilitätsdrucks (Warum haben sie den kein Auslandsemester, ist doch seit Bologna ganz easy machbar?).
Kurzum: Bologna hat GENAU die nach den ersten internationalen Vergleichstudien von führenden Erziehungswissenschaftlern angeprangerten Mängel im deutschen Schulsystem eigentlich verschärft.
Für mich gings vorher (im Diplomstudiengang, den ich dank Bologna NICHT zuende bringen konnte, weil die UniBi zur Modelluni für das BA/MA-System werden wollte und dafür u.A. meinen Dipl.-Studiengang dann eben einfach "abgewickelt" hat) vor allem darum, die Inhalte zu verstehen, und sie auch adäquat anwenden zu können ... im BA gings dann vor allem darum, sich da irgendwie durchzukämpfen.
Am Ende (kurz vorm Master) "saß" (eigentlich habe ich meist gestanden) ich dann mit Leuten in den Seminaren, für die "Verständnis" allenfalls ein Begriff ist, den man mal googeln kann, wenn man neben dem Studium für sowas Unwichtges mal Zeit findet. Für die war das Einhalten der Regelstudienzeit weit wichtiger als der Erwerb von Fachkompetenz.
Leider gibt ihnen der Arbeitsmarkt recht, denn Fachkompetenz spielt in der freien Wirtschaft erst dann eine Rolle, WENN man nicht länger gebraucht hat, als Regelstudienzeit.
Erstmal Orientierung gebraucht? ... MOEP!
Zunächst das "falsche Fach" angefangen (z.B. weil Mathe in Kl.12 oder 13 vom Gym dann doch was ganz anderes ist, als an der Uni)? ... MOEP!
Viele Klausuren erst beim 2. Anlauf bestanden? ... MOEP!
Nur ne 2 vorm Komma? ... MOOOOOOEEEEEPPPPPPPPPPPPPPP!
Ich bin richtig froh, dass ich mich auch auf Stellen bewerben kann, wo die Entscheider ein bisschen Pädagogik im Kopf haben, denn da wissen die, dass ein paar Zahlen nichts über Fachkompetenz aussagen, und etwas, für das man lange gebraucht hat, eben auch etwas sein kann, das man RICHTIG gut kann (man hat eben nur länger gebraucht, es zu lernen).
Die schmeißen eine Bewerbung eben nicht sofort in den Mülleimer, bloß weil da 20 Semester für ein Studium draufstehen, was man der Theorei nach auch in 10 Semestern geschafft haben kann.
Wenn die Qualifikationen passen, dann entscheidet eben ein Bewerbungsgespräch oder ein Probearbeiten darüber, ob man den Job kriegt. Da entscheiden die (den künftigen Kollegen) BEI DER ARBEIT IM TEAM gezeigten und wahrgenommenen Kompetenzen und nicht, dass man die passenden Zettel mitbringt und bis zu 40 Jahren im Betrieb bleiben könnte.
Bologna lässt sich gut zusammenfassen, ich nutze dazu gerne einen Ausspruch von Prof. Dr. Tillmann:
"Die Sau wird doch nicht fett, wenn man sie regelmäßig über eine Waage jagt, sondern durch das richtige Futter".
Wenn ich "Bologna" höre, sehe ich vor allem PädagogInnen und ErzieherInnen, die viel zu viel Zeit damit zubringen, ihre eigene Arbeit zu dokumentieren und zu evaluieren. Die kommen im Prinzip ihrem Erziehungsauftrag weniger konzentriert nach, weil sie ständig beweisen müssen, dass sie ihn erfüllen und die dazu eingesetzen Methoden kosteneffizient sind.
Ein Bekannter voon mir ist Erzieher, und muss jedes Jahr 3 verschiedene Sprachstandserhebungen durchführen ... nur damit man evtl. irgendwo "nachregulieren" kann.
War individuelles Lerntempo vor 15 Jahren noch ein pädagogischer Fakt, dem man leider mit der "Orientierung am Mittelkopf" nicht gerecht werden kann, so wird das heute von den Eltern eher als "dringendes Warnsignal" betrachtet ...
"WAS? der ist im Zahlbereich bis 100 noch nicht sicher? Dabei ist er doch schon über 3 Jahre alt ... und das Alphabet kann er AUCH noch nicht auswendig? ... Oh Gott! Schatz! hat unser Kind vielleicht eine Lernschwäche, oder gar ADHS?"
Am besten gleich Notschlachten (die Eltern, das Kind kann da nix für ... OK - die Eltern machen sich auch nur Sorgen und geben den Druck eher unfreiwillig ans Kind weiter).
Möchten sie "Bologna" wirklich deinstallieren? -- meine Antwort lautet da ganz klar "Ja ... am besten Gestern". Aber ich denke eben, dass das Unverständnis, welches ich und viele andere der "Bildung Bolognese" entgegenbrigen, tatsächlich der einzige Grund dafür ist, dass die AfD sagt, sie sei gegen Bologna. Und für sowas gebe ich meine Stimme nicht her, vor allem wenn es daneben so wenig andere von mir als "positiv" bewertete Punkte im Programm gibt.
Sorry, dass ich schon wieder so ellenlang vor mich hin schwadroniert habe, aber der Bologna-Prozess war mMn wirklich ein harter Schlag ins Kontor, der nicht im Ansatz im Interesse der "Kunden" des Bildungssystems gewesen ist (das wären die Lernenden), sondern nur "Scheinbedürfnisse" der Wirtschaft bedient hat.
Diesem Unsinn würde ich keine Träne nachweinen.
Die anderen Punkte aus obigem Schrammler-Zitat habe ich nun nicht mehr angekratzt ... der Beitrag geht auch so nicht mal in Minimalvergrößerung auf meinen 22,5er Bildschirm.
Scheint so als wäre ich bei "Bildung Bolognese" auch nicht mehr gerne diplomatisch.
Veraks Reaktion auf dieses Wohlstandsgefasel kann ich mir vorstellen ... total dumm und eklig, anderswo verhungern Kinder und es ändert eh nichts daran, dass "DIE" uns bald den Arsch bis zur Halskrause aufreißen werden. Lasst es mich so ausdrücken: Ohne Bildung Bolognese würden das zumindest in DE vielleicht ein paar mehr Menschen wenigstens verstehen (danach zu handeln ist wieder was anderes).
Ich habe neulich noch einen Mathe-Lehrer (Kl. 11) auf eine Verständnisfrage antworten hören "dafür haben wir in der Schule keine Zeit" (der wird doch nicht das Verstehen gemeint haben?) ...
Bologna? Läuft!