Schlussfolgerungen
Der gesamtdeutsche Wohnungsbedarf bleibt mit 308.000 jährlich neu benötigten Wohnungen auch in den nächsten Jahren auf einem hohen Niveau. Der Bedarf ist niedriger als in den von starker Zuwanderung gekennzeichneten Jahren zuvor, liegt aber immer noch leicht über der zuletzt zaghaft gestiegenen Bautätigkeit von zuletzt 306.000 Wohnungen im Jahr 2020. Auch für 2021 ist nur von einer geringfügig höheren Bautätigkeit auszugehen, sodass das Ziel der ehemaligen Bundesregierung von 1,5 Millionen Wohnungen für die Periode 2018–2021 nicht erreicht wird. Realistisch für 2021 erscheinen Fertigstellungszahlen von 320.000 Wohnungen, sodass in den vier Jahren (2018–2021) dann insgesamt 1,21 Millionen Wohnungen fertiggestellt sein werden. Das Ziel der voraussichtlich neuen Bundesregierung ist mit 400.000 neuen Wohnungen noch ehrgeiziger (SPD/Grüne/FDP, 2021) und liegt deutlich über den hier vorgestellten Zahlen desIW-Wohnungsbedarfsmodells. Offensichtlich soll durch die Zielerhöhung vermittelt werden, dass die Politik gewillt ist, das Problem der Wohnungsknappheit und der steigenden Mieten und Preise schnell zu beseitigen. Das Ziel ist jedoch deutlich zu hoch angesetzt. Auch die in den letzten Jahren zu geringe Bautätigkeit rechtfertigt die hohe Zielmarke nicht, da sich die Nachholbedarfe nicht 1:1 zu einem späteren Zeitpunkt manifestieren und das IWWohnungsbedarfsmodell diese Effekte mitberücksichtigt. Das Ziel ist zudem vor dem Hintergrund der Kapazitäten der Bauwirtschaft und der bestehenden Materialengpässe (zumindest kurzfristig) unrealistisch. Problematisch ist aber, dass eine Wohnungspolitik, die sich an dieser Zielmarke orientiert, insgesamt Gefahr läuft, mittel- bis langfristige Fehlentwicklungen anzustoßen.
- Erstens führt eine über längere Zeit zu hohe Bautätigkeit zu einem Überangebot an Wohnungen, was Leerstandsrisiken erhöht und negative Rückwirkungen auf Wohnungsbestände auslöst. Aufgrund der ausgeprägten Zyklizität von Immobilienmärkten kann davon ausgegangen werden, dass viele Regionen, in denen in den letzten Jahren die Bautätigkeit enorm ausgeweitet wurde, in eine Phase eintreten, in der über den Bedarf gebaut wird. Zusätzliche Anreize oder zu hoch angesetzte Zielvorgaben erhöhen das Risiko, dass diese Phasen lang anhalten und zu den genannten Problemen führen.
- Zweitens sollen nach den Vorstellungen der neuen Bundesregierung von den 400.000 neuen Wohnungen 100.000 öffentlich gefördert sein. Hierdurch sollen mehr bezahlbare Wohnungen entstehen. Diese Zielmarkte ist vor dem Hintergrund der zuletzt fertiggestellten Sozialwohnungen von rund 30.000 im Jahr 2020 ebenfalls sehr hoch angesetzt (BMI/BBSR, 2021). Es droht damit die Gefahr, dass zu viele Wohnungen staatlich gefördert werden, obwohl eine solch hohe Zahl zur Sicherung des bezahlbaren Wohnens gar nicht erforderlich ist. Hierfür wären jährlich Mehrausgaben für Bund und Länder von mehreren Milliarden Euro erforderlich. Deutlich kostengünstiger wäre es, die Hauptursachen für die hohen Preise im Neubau, nämlich die stark gestiegenen Baukosten und Grundstückskosten, durch gezielte Maßnahmen in den Blick zu nehmen. Vor diesem Hintergrund sollten sich quantitative Zielvorgaben im sozialen Wohnungsbau eher am jährlichen Wegfall von Sozialwohnungen orientieren (ca. 60.000 Wohnungen p.a., BMI/BBSR, 2021), um den Umfang von Sozialwohnungen langfristig zu erhalten. Zudem muss die Treffsicherheit im sozialen Wohnungsbau verbessert werden, da viele Haushalte, die in Sozialwohnungen leben, über der Armutsgefährdungsgrenze liegen (vgl. Sagner et al., 2020).
- Drittens führt eine überbordende Bautätigkeit zu Ineffizienzen in der Nutzung des bestehenden Wohnraums, da durch das Überangebot Leerstände drohen und geringe Perspektiven der Verwertung die Ausnutzung der Flächen reduzieren. Diese Prozesse gehen mit einem steigenden Pro-Kopf-Wohnflächenkonsum einher, was die Erreichung der Klimaschutzziele konterkariert (Stichwort Suffizienz).
Die vorgelegte Analyse unterstreicht darüber hinaus die Konzentration der Bevölkerung auf die Metropolregionen rund um die Großstädte, während viele Kleinstädte und Gemeinden in strukturschwachen und ländlichen Regionen schrumpfen. Die in den letzten Jahren entstandenen regionalen Disparitäten zwischen dynamischen Agglomerationsräumen und vielen ländlichen Räumen werden sich daher weiter verstärken. Es wäre ein Fehler, daraus allein einen Neubaubedarf auf der einen Seite und einen Abriss zur Vermeidung zunehmenden Leerstands auf der anderen Seite abzuleiten. Schließlich passt die Kombination aus Neubau und Abriss nicht zu den Zielen einer nachhaltigen Politik, denn gerade der Wohnungsneubau ist aufgrund seines hohen Ressourcenverbrauchs und der Versiegelung von Flächen mit Treibhausgasemissionen und ökologischen Belastungen verbunden. Vielmehr ist eine umfassende Strategie erforderlich, welche die spezifischen Probleme der einzelnen Teilräume adressiert und gleichzeitig einen besseren Ausgleich der Regionen untereinander schafft.
In den Großstädten steht die Erweiterung des Neubaus auch weiterhin vor großen Herausforderungen, da neues Bauland rar und die Kapazitäten der Bauwirtschaft erschöpft sind. Zudem existieren erhebliche Vorbehalte in der lokalen Bevölkerung. In ländlichen und strukturschwachen Regionen mit schrumpfender Bevölkerung gibt es dagegen ein zunehmendes Gefühl der Perspektivlosigkeit, was mit einer abnehmenden Akzeptanz der gesellschaftlichen Ordnung und Protestwahlen verbunden sein kann (Rodríguez-Pose, 2018). Das Brexit-Votum ist ein Beispiel, wie weitreichend die Folgen einer solchen Entwicklung sein können (vgl. Becker et al., 2017).
Das Ziel sollte deshalb darin bestehen, den Einzugsbereich der Großstädte möglichst weit zu ziehen, um einerseits die Großstädte zu entlasten, andererseits aber möglichst vielen Kommunen Perspektiven zu geben. Die Voraussetzungen dafür sind günstig, schließlich erlaubt das Voranschreiten mobilen Arbeitens auch größere Distanzen zur Arbeitsstelle, da die Wege seltener zurückgelegt werden müssen. Außerdem gibt es eine weiterhin starke Präferenz für Einfamilienhäuser und dem Wohnen im suburbanen Raum, die sich in Folge der Corona-Pandemie noch verstärkt hat (Dolls/Mehles, 2021; Oberst/Voigtländer, 2021). Damit es gelingt, den Einzugsbereich zu erweitern, bedarf es aber einer Attraktivierung des (weiteren) Umlands, insbesondere durch die Sicherstellung digitaler Infrastruktur wie ebenso einer Ausweitung des ÖPNV (vgl. Hüther et al. 2019). Hierbei müssen verstärkt nachhaltige Mobilitätskonzepte im Rahmen der Verkehrs- und Stadtplanung zur Anwendung kommen. Zusätzlich muss gewährleistet sein, dass die Umlandgemeinden auch ein sonst attraktives Infrastrukturangebot (5G, Breitband, Bildung etc.) bieten können.
In Regionen mit rückläufiger Bevölkerung gilt es weiterhin, das Hauptaugenmerk auf den Erhalt der Wohnungsbestände zu richten. Wohnungsneubau in neu ausgewiesenen Standorten führt dort zu sinkenden Siedlungsdichten und damit auch zu einer geringeren Auslastung der öffentlichen anschluss- und verkehrstechnischen Infrastrukturen. Dies geht zwangsläufig mit steigenden Belastungen in Form von Beiträgen und Steuern für die dort lebende Bevölkerung einher. Negative Folgen resultieren zudem aus dem Verlust von Freiflächen (Landwirtschaft, Wald) und der Zersiedlung der Landschaft. Gleichzeitig unterbleiben Investitionen in die zentralen Lagen der Städte und Dörfer. Hinzu kommt, dass dieses als „Donut-Effekt“ bekannte Phänomen den sozialen Zusammenhalt und die Chancen für lebendige Stadt- und Ortskerne mindert. In den hiervon betroffenen Landesteilen muss weiterhin der Grundsatz „Umbau vor Neubau“ gelten. Hierfür sollten Anreize gesetzt werden, etwa durch Förderprogramme wie „Jung kauft Alt“, in denen Käufer von alten Bestandsimmobilien Zuschüsse erhalten (z. B. Hiddenhausen in NRW oder der Landkreis Rotenburg in Niedersachsen).
Grundsätzlich ist nicht zu erwarten, dass der Sog in die Großstädte gänzlich versiegen wird. Schließlich ist weltweit ein Zuzug in die Metropolen zu beobachten, da sich die wirtschaftliche Aktivität dorthin verlagert (Glaeser, 2012). Nichtsdestotrotz dürfte sich dieser Prozess aufgrund der zunehmenden Preisunterscheide zwischen Stadt und (Um-)Land verlangsamen. Zudem ist zu erwarten, dass sich die Nachfrage in das erweiterte Umfeld der Metropolregionen weiter ausdifferenziert. Dies bietet auch Chancen für periphere Standorte und eine bessere räumliche Verteilung wirtschaftlicher Perspektiven sowie für die Sicherung der Daseinsvorsorge im kommunalen ländlichen Raum.