Die ganze Entwicklung ist bemerkenswert. Kann man so machen, kann man so wollen. Aber alles hat Konsequenzen.
Noch vor etwa 25 Jahren war es Gepflogenheit, neue Gesetze vorab auf Verfassungstreue zu überprüfen und wesentliche Änderungen nicht über Gesetze, sondern über Verfassungsänderungen einzuspeisen. Die deutsche Verfassung wurde schon immer auch mal geändert, bis jetzt gab es etwa 65 Änderungsgesetze.
Für die Änderung der Verfassung gelten allerdings andere Hürden als für reine Parlamentsgesetze. Vielleicht deswegen sehe ich immer öfter den Versuch, sich den Weg über eine Verfassungsänderung zu sparen und die Verfassung lediglich neu zu "interpretieren". Das machen aber die Verfassungsrichter oft nicht mit, die laut unserer Verfassung (!) die einzigen sind, die die Verfassung "interpretieren" dürfen. Da die Verfassungsgerichte nur sehr langrfristig neu besetzt werden können, sind den ungeduldigen Politikern aktuell die Hände gebunden. Langfristig braucht man nur die Verfassungsgereicht anders zu besetzen und das "Problem" ist auch vom Tisch.
Aber zurück zum aktuellen Thema. Das hier zitierte Urteil geht auf eine Klage von Katharina Nocun und Patrick Breyer von der Piratenpartei zurück. In Summe hatten sich ein paar Tausend Menschen der Klage angeschlossen. Ein paar Tausend: das ist nicht viel. Zu Mal die meisten (neutral gemeint) nur Mitläufer waren. Wahrscheinlich waren es wenige Dutzend Bürger, die tatsächlich die verfassungsrechtliche Klärung durchgesetzt haben. Hm. Wie viele Gesetze mit Verfassungsbruch mag es geben, weil sich niemand gefunden hat, dagegen zu klagen? Die Verfassungsgerichte sind reine Antragsgerichte; ohne Klage kein Urteil.
Das ist bei weitem nicht so weit hergeholt, wie man denken mag. Das thüringsche Gesetz zur paritärischen Besetzungspflicht von Wahllisten wurde von der AfD (und NUR der AfD) als verfassungwidrig entlarvt. Das. muss. man. sich. mal. reinziehen. Die Höcke(!)-Truppe führt zu einer verfassungsrechtlichen Klärung eines absolut zentralen Gesetzes der deutschen Demokratie und behält sogar Recht. Und ich will jetzt absolut kein white washing dieser Ekeltruppe. Ich will darauf hinweisen, in welchem Zustand das gesellschaftliche Klima in Deutschland ist, wenn es um die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen geht. Viele Politiker, Aktivisten und/oder sonstige Meinungsführer betrachten die Verfassung nur noch als "Vorschlag", nicht mehr als oberstes Gebot unseres Zusammenlebens.
Kann man so machen, kann man so wollen. Aber alles hat Konsequenzen.