D0m1n4t0r schrieb:
Es fängt doch schon bei den Begrifflichkeiten an. Bestes Beispiel die aktuelle Corona Situation.
"Querdenker", "Schwurbler", "Spinner" usw.
Zuerst fährt man erstmal all diese negativ besetzten Begriffe auf und stellt die Leute dadurch verbal in die Ecke, und dann erwartet man dass eine vernünftige Diskussionen stattfinden soll, nachdem man dem "Gegner" schonmal einen verbalen Tiefschlag verpasst hat bevor der überhaupt irgendwas sagen konnte.
Kleines Beispiel gefällig?
Bitte tut der Debatte einen Gefallen und differenziere an der Stelle.
"Querdenker" hat traditionell eine ganz andere Bedeutung als mittlerweile. Mit diesem "alten" Etikett bin ich lange Jahre meines Lebens herumgelaufen weil ich eben Dinge immer aus mehr als einer Perspektive betrachte, auf der Suche nach Wissen, Neugierde, Verständnis und als analytische Methode. Ich habe mir damit definitiv nicht nur Freunde gemacht.
Mit denen, die sich jetzt "Querdenker" nennen hat das nichts zu tun. Die "Kollegen" haben ihren Namen von ihrer Veranstaltung "Querdenken".
"Schwurbler" trifft auf die YT- und Telegram-Communities zu, in der die absurdesten Verschwörungstheorien geteilt und für bare Münze genommen werden. Wenn ich die flache Erde als Tatsache betrachte und alle Beweise als Fälschung ablehne, dann muss ich mit den Konsequenzen leben. Verantwortung übernehmen undso.
Wenn ich zur Lynchjustiz aufrufe um vermeintlich das Grundgesetz zu schützen, dann kann ich mich definitiv als "Spinner" klassifizieren lassen. Denn ich folge meiner eigenen Logik nicht.
Ich weiß nicht wie es dir so ergeht, aber ich versuche seit bald zwei Jahren den Kontakt zu Freunden eben nicht abreißen zu lassen, auch wenn sich diese in die absurdesten Dinge verrennen. Für mich ist der Umgang mit Leuten, die sich in diesen Sumpf verlaufen nicht neu; Ich war selbst dort, ich hab mich für bestimmt ein halbes Jahr mit dem Kram beschäftigt und es ernst genommen bis mich die Absurdität, bis das Fehlen einer inneren Logik schon schmerzhaft wurde. Ich habe erlebt wie Freunde, die über die Begrifflichkeiten 9/11 und "freie Energie" oder "gibt es Außerirdische" in die Szene gedriftet sind, sich darin verloren haben und wie der zurückgekommen sind und die Welt danach differenzierter sahen. Ich sehe aber auch, dass sich zumindest einer davon mit jedem "Andersdenkenden" sofort solidarisiert, egal wie absurd die These ist.
Nur die Skala dessen, was gerade passiert ist eine ganz andere. Erstmal bin ich immer selbst dafür verantwortlich, was ich konsumiere und was ich eben nicht konsumiere und mit welcher Einstellung ich das tue, Stichwort "kritische Distanz".
Dennoch: Wenn ich Schwachsinn sehe, dann nenne ich das Kind auch beim Namen. Langsam gehört etwas Ehrlichkeit in die Debatte.
Natürlich gibt es zwei Sorten davon: Wenn jemand behauptet 2+2 wäre 22, dann ist das objektiver Schwachsinn weil falsch. Wenn jemand behauptet jemand müsse für die gleiche Leistung besser benotet werden weil er durch seine gefärbten Haare strukturell diskriminiert würde (ohne einen Beweis zu liefern), dann halte ich das zumindest für so weit hergeholt, dass es dem subjektiven Schwachsinn zumindest sehr nahe kommt.
Diese Frage nach der Objektivität wird aber gar nicht gestellt. Wir haben gerade aus diversen Richtungen, sowohl aus der "linken" über die Gender-Studies-Richtung als auch über die Alt-Rights bzw. die Hardcore-Religiösen (auch die Esoteriker) die Tendenzen, dass man Objektivität und Evidenzbasierte Verfahren zum Erkenntnisgewinn ignoriert und versucht die Gefühle zur "Ground Truth" zu erheben. Ich fühle, also bin ich. Dem ganzen liegen natürlich völlig unterschiedliche Motivationen zu Grunde, zumindest oberflächlich. Natürlich ist völlig klar, dass Gefühle leicht zu manipulieren sind. Gefühle können sowohl krank als auch gesund machen - dafür gibt es Evidenz.
Evidenzbasierte Verfahren eignen sich dafür, Vorhersagen zu machen, welche überprüfbar sind. Wer die Existenz von evidenzbasierten Verfahren ablehnt, lehnt auch die Möglichkeit der Prädiktion ab. Wenn ein über evidenzbasierte Methoden modelliertes Ereignis eintrifft, dann ist das nur der Beweis für "höhere Kräfte". Die einen nennen es Aliens, die nächsten "das Patriachat", die anderen Gott, "die Juden", "das Geld" oder "die da oben".
Das ist aber im Kern keine andere Meinung, das ist die Ablehnung fundamentaler gesellschaftlicher Werte, auf deren Basis man diskutieren kann. Ich brauche auch in der Mathematik auch Axiome auf deren Basis ich Beweise führen kann. Wenn mein Gegenüber das Axiom als "Ich lasse mir doch nicht von irgendwelchen toten Griechen nichts vorschreiben" ablehnt, dann wird es schwierig eine Erkenntnis im Dialog zu gewinnen.
D0m1n4t0r schrieb:
Und das ist nicht nur bei den Corona Diskussionen so (da nur besonders krass), sondern bei fast allen Diskussionen, egal worum es geht. Besonders schlimm sind die Talkrunden im Fernsehen wenn da mehrere Politiker aufeinanderprallen die sich dann ständig gegenseitig unterbrechen, reinquatschen das Wort im Munde umdrehen und irgendwas behaupten was der andere so nie gesagt hat. Ich denke dann jedes mal "Meine Eltern haben mir beigebracht dass es unhöflich ist andere nicht ausreden zu lassen. Haben eure Eltern euch keine Manieren gelehrt?", und schalte dann auf irgendwas anderes um.
Talkrunden finde ich i.d.R. auch als extrem anstrengend und lese lieber die Zusammenfassung. Dennoch: Bei den Runden geht es eben nicht darum, dass jeder seine Phrasen unwidersprochen herunterrattern darf, sondern dass ein Streitgespräch entsteht und die Positionen in Frage gestellt werden. Das bedeutet auch, dass man sich das Wort erkämpfen muss. Das ist die echte Welt, nicht die Schule - und nicht im Parlament.
Das ist nicht mit "oh die haben keine Manieren, da ist es egal was sie sagen" erledigt.
Rhetorik und Text lassen sich nicht trennen. Und das sieht man an diesem Klassiker besonders gut:
Die Frage ist: Ist es eine sachliche Auseinandersetzung? Und da wird es bei der Politik schwierig, weil eine sachliche, politische Position eng mit den Personen und den Parteien verwoben ist.
So ist eben wie schon von anderen erwähnt eine Hinterlassenschaft der Ära Merkel, dass wir bisher eine Position "pro Regierung" und "dagegen" haben. Nur dass die Regierungshaltung "alternativlos" war dank breiter Mehrheiten via großer Koalition. Ich erinnere mich schwach an eine Zeit davor, als der Schlagabtausch zwischen "den Roten" und "den Schwarzen" hin und her ging, und das politische Feld deutlich lebhafter war da mehr verschiedene Positionen innerhalb der politischen Mitte diskutiert wurden. Das ist durchaus ein Problem.
Ich gehe aber nicht mit bei der Behauptung, dass da Leute sich genötigt fühlten, die den Reichstag zu stürmen, weil eine Politikerin sie "Covidioten" genannt hat. Irgendwann ist das doch nur noch ein Vorwand um sich als Opfer zu inszenieren um dann die angebliche "Notwehr" als Freifahrtschein zu missbrauchen.
Und ja, das mag alles nur ein kleiner Teil der Demonstranten gewesen sein. Dennoch hat diese Bewegung sich nie davon distanziert, sondern das wieder als Anlass genommen, den eigenen Opfermythos weiter zu pflegen.
Und damit sind wir wieder am Anfang: Ich habe in einem gewissen Maße Verständnis für Leute, die eine Wirksamkeit von Masken zum Selbstschutz hinterfragen. Ich habe auch noch Verständnis für Leute, die sich fragen ob sie sich angesichts möglicher seltenster Nebenwirkungen (Allergie, Phobie...) impfen lassen sollen. Ich habe aber kein Verständnis dafür, wenn jemand dermaßen entgleist, dass eine Maske zu tragen zum Symbol einer vermeintlichen Unterdrückung hochstilisiert wird oder man vom "geplanten Massenmord" schwadroniert der eine sofortige Revolution erfordert. Ich kann nicht vor "Panikmache" warnen und gleichzeitig den Tod aller Geimpften verkünden.
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Zum Schluss noch eine kleine Anekdote zum Thema Verantwortung übernehmen und Konsequenzen tragen. Meine Schwägerin hat Mitte des Jahres hochschwanger geheiratet. Meine Schwiegermutter ist seit Jahren Esoterikerin und glaubt alles was auf Telegram steht ungeprüft, natürlich lässt sie sich weder impfen noch testen. Außer natürlich für die Arbeit, da ihre Chefin auch ihre Freundin ist. Auf der Hochzeit ihrer Tochter ist sie aufgrund von "3G" (hochschwanger => Top-Risikogruppe) nicht erschienen weil sie sich nicht testen lassen wollte. Ihrer Interpretation nach war sie also "explizit ausgeladen" und "wird ausgeschlossen" was angesichts des wochenlangen Bettelns aller Familienangehöriger sie möge sich doch testen lassen einfach ein schlechter Witz ist.